Braintime

Ich wäre gerne 10kg leichter. Könnten auch 15 sein. Das wäre ich gerne seit ca. 20 Jahren, könnten auch 25 sein. Damals hatte ich mit dem Rauchen aufgehört und mir die zusätzlichen Kilos angefressen. Seitdem ist das ein beherrschendes Thema, wenn auch häufig nur so unterschwellig. Meine Grossmutter z.B. pflegte in ihren letzten Jahren grundsätzlich zu sagen, wenn sie mich sah „Du bisch aber dick gworde“. Übrigens unabhängig davon, ob das wirklich der Fall war – also wenn ich im Kopf errechnete wann ich sie zuletzt gesehen hatte, und welche Gewichtsdifferenz in dem Zeitraum zu verzeichnen war. Denn das wusste ich immer relativ genau – ein Subprozess im Hirn führte ständig Buch und kannte das ungefähre Gewicht 12 Monate zurück oder 2 Jahre oder zum Zeitpunkt des Abiturs oder des letzten Klassentreffens oder 4 Jahre zurück als ich meinen Ex-Chef zum letzten mal sah, als er auch statt erstmal ‚Hallo’ sagte ich sei ja ganz schön dick geworden. Meine Freunde beschäftigen sich auch viel mit dem Thema, das weiß ich, also dieser ganze „oh, er hat ja abgenommen, läuft er wieder?“ oder „oh, er hat ja wieder ganz schön zugelegt, läuft er nicht mehr?“ Komplex. Mir tun sie manchmal leid, weil sie ja auch komplett Buch führen müssen in ihren Köpfen für diese Betrachtungen.
Ich habe übrigens nicht viel Diät-Erfahrung, ist mir zu blöd. Aber natürlich habe ich – heimlich oft – zahllose Artikel und Studienergebnisse und „Fett vermeiden!“, „Kohlenhydrate vermeiden!!“, „neue Studien belegen: Kohlenhydrate sind gut!“ und „die Mittelmeer-Diät, warum Öl so wichtig ist“ Artikel in mich reingefressen und weiss also bei jedem Lebensmittel grob Bescheid, was es bedeutet und wie schwarz es meine Bilanz an diesem Tag mal wieder macht. Natürlich habe ich mich auch quantified, habe runtastische Aktivitäten gestartet und um Anfeuerung in sozialen Netzwerken gebeten, habe meine Wage ins Netz gehängt und lasse mich per App über den Verlauf informieren. Blutdruck habe ich auch, unnötig zu erwähnen, inkl. App übrigens.

Und dann – jetzt, zum Sommeranfang z.B. wenn man mit Angstschweiß an den Schrank geht um den Stapel unten mit den kurzen Hosen rauszuholen gibt es wieder diesen anderen Moment, nach tagelang aufgestautem Schuldgefühl, weil man ja bestimmt wieder fetter geworden ist (und die Wage gerade einfach mal meidet) – da passen einfach alle Hosen aus dem letzten Jahr noch. Hm? Und die Jeans die man für die Gartenarbeit anzieht, passt auch noch (ok, bisschen zwickig), aber die hat man vor 5 Jahren gekauft.

In diesen Momenten denke ich, was ein fuck! Was beschäftige ich mich eigentlich tagaus, tagein mit diesem total blödsinnigen Thema, nur um dann festzustellen, dass es eigentlich nur eine Sinuskurve mit 5kg rauf oder runter ist die ich halt mal mit maximalem Sport- und Essensterror runterdrücke oder eben mit Schuldgefühlen und Wagenvermeidungsterror hochlaufen lasse. Und wieviel Braintime bitte geht dafür drauf, mit Nachdenken über Essen oder nicht Essen, Schuldgefühlen, Apps ablesen, Freunde nicht besuchen weil sie einen zuletzt beim unteren Punkt in der Sinuskurve gesehen haben, dämliche Studien lesen usw. – das ist wirklich ein grandioses Hirn-Beschäftigungsprogramm. Nicht nur für mich – für all die anderen die immer schön mit-messen ja auch. Zumal man bei den anderen vermuten kann, dass ihre Aufmerksamkeit für das Thema auch nicht aus Sorge um meinen Zustand, sondern viel mehr aus eigener krankhafter Aufmerksamkeit für das Thema gespeist wird – die werden also bestimmt nicht nur meinen Zustand im Monitoring haben sondern ihren eigenen genauso und noch den von zig anderen Freunden, dem Partner, den Kindern. Auf das bloß alle nicht zu dick werden, GOTT BEHÜTE! Und was ist bitte eigentlich so weltbewegend toll daran 5kg weniger zu wiegen, was genau ist dann eigentlich besser, also in Syrien z.B., oder was die Verschmutzung der Meere anbelangt, oder in der Liebe – wieviel anders bläst der Wind in den Wipfeln wenn wir leichter sind als letzte Woche?

Wie wäre es wenn wir diese Braintime für andere Dinge einsetzten, also z.B. für mehr Gerechtigkeit, bessere Bedingungen für alleinerziehende Mütter, Abschaffung von Frontex, selbstbestimmteres Leben im Alter, Weltfrieden, autofreie Siedlungen, neue Energieversorgungskonzepte, Politik! Mit all der verschleuderten Braintime könnten wir vermutlich alle locker in eine Partei eintreten und mit links diverse Ortsversammlungen mitmachen und Papiere verfassen und dabei noch ein Instrument erlernen und Gedichte verfassen. Und dabei unbemerkt mal ein bisschen mehr und mal ein bisschen weniger wiegen.
Und wenn Freund aufeinandertreffen könnte man sagen – was, Du bist jetzt auch in eine Partei eingetreten, cool! Oder: Wow, Du hast viel über neue Konzepte in der Energieversorgung nachgedacht, das sieht man.

Anders gefragt – wenn man ein Programm aufsetzen wollte, um eine Gesellschaft möglichst kollektiv ruhigzustellen und mit Schuldgefühlen auszustatten und dabei am besten auch noch den Konsum anzukurbeln, was würde man wohl tun?

Ich hab es jedenfalls satt (sic!). Ich will nicht mehr darüber nachdenken und auch nicht mehr darauf angesprochen werden. Und wenn ich die freiwerdende Zeit mit der Betrachtung von Wolkenformationen beim Vorbeifahren an Bielefeld verbrächte, es wäre besser investiert.

Graue, tiefhängende Wolken mit hier und dort weißen Auftürmungen in Bodennähe. Irgendetwas scheint sich da oben zu spiegeln von der Landschaft, in dem in sich verwobenen dichten Wolkenteppich.

Category: Politik, Produkte und Konsum 8 comments »

8 Responses to “Braintime”

  1. klappstulli

    wunderbar direkt und absolut sinnvolles brainstorming!!!!

  2. gerti

    Waage! Nich inne Wolken gucken, besser inne Duden!

  3. Kaltmamsell

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