Ihr fragt ob #Aufschrei was bewirkt hätte, really?

Heute das Interview mit Anne Wizorek aka @marthadear auf EinsLive zu Aufschrei gehört. Dabei stellte der Moderator die Frage, was denn die #Aufschrei-Debatte bisher gebracht hätte.
Da musste ich kurz Luft holen, denn mein Eindruck ist, dass unheimlich viel passiert ist seitdem.
Um das zu verstehen, muss man vermutlich erstmal über Schweigen reden. Und der Moderator meinte ja auch ob Anne den Eindruck gehabt hätte, da hätte sich etwas angestaut, was jetzt durch die Brüderle-Sache nur endlich hochkam. Ja, ich glaube genau das. Aber ich glaube auch, dass die meisten total unterschätzen, was da genau gelauert hat, seit wievielen Jahren und mit welcher zerstörerischen Kraft. Denn Schweigen – also das Gegenteil von #Aufschrei ist mit großem Abstand das dominierende gesellschaftliche Muster für jegliche Art von sexuellen Übergriffen. Und zwar so sehr, dass es mit dem Opfern selbst anfängt, unmittelbar wenn es passiert häufig. Es wird weitergeschwiegen von den Müttern und Vätern, Freunden, Leuten die dabei waren, Medien, Pfarrern, Sozialarbeitern. Und natürlich können die Täter so unglaublich komfortabel auf den allgemein gültigen, absolut undurchlässigen Mantel des Schweigens setzen. Der übrigens unterschiedlich daherkommt, also z.B. gerne auch in der Form der Verniedlichung, wenn nichts sagen halt grad keine Option ist (wie man schön am Bundespräsidenten sehen konnte).
Das Opfer-Schweigen ist hart, langanhaltend und zerstörerisch. In meinem Fall hat es z.B. etwa 30 Jahre gedauert, bis ich erstmals gegenüber meiner Frau und dann meinem Therapeuten von einem Übergriff eines Freundes meiner Mutter erzählen konnte, der mir, dem 10-jährigen fröhlichen Jungen auf einem dunklen Weg, wo ich ihm komplett ausgeliefert war zwischen die Beine griff. Es hat nochmal zwei Jahre gedauert, bis ich meine Mutter erstmals darauf ansprechen konnte. In Summe also etwa 32 Jahre vom Übergriff bis zur Ansprache bei einer Schutzperson. Und ich schäme mich jetzt fast noch darüber zu reden*, während ich dies hier schreibe. Weil ich ja nicht vergewaltigt wurde. Weil es doch gar nicht so schlimm war. Weil ich mich nicht so haben sollte. Aber dieses Arschloch hat mir verdammt nochmal Horror-Angst gemacht damals, er hat alle Grenzen überschritten, mein Vertrauen missbraucht und ausserdem trickreich qua Schweigen die Schuld auch noch in mich reingekippt. Schuld dafür, dass ich nichts gesagt habe, sondern seine Hand nur wegschob. Schuld vor allem weil ich Angst davor habe, was er in den 30 Jahren seit damals alles getan hat, und dass ich es hätte verhindern können. Und zur Schuld natürlich diverse Angstvisionen, Therapiesitzungen in denen ich mühsam Schritt für Schritt diesen Weg mit meinem Therapeuten wieder abschreite, Tränen während ich dies schreibe usw.
Und ich kenne zig Beispiele aus meinem engeren Bekanntenkreis von Menschen, meistens Frauen natürlich die in irgendeiner Weise ähnliche Erfahrungen hatten (häufig unendlich viel schlimmere), ähnlich lange geschwiegen haben, ähnlich verwüstete Flecken in sich drin ein Leben lang mit sich rumtragen dürfen. Und ich habe drei Töchter, was derzeit einer Wahrscheinlichkeit von 100% eines sexuellen Übergriffs auf eine davon entspricht. Ich kann mich jetzt schon darauf einstellen da als Vater gescheitert zu sein und mir nur wünschen, dass ich nicht erst nach 32 Jahren zur Hilfe geholt werde.
Ich weiss nicht genau, was der Anteil des Schweigens daran ist, also an den Folgeschäden. Ich befürchte er ist gross, man ist im Schweigen allein, es wuchert vor sich hin und man fühlt sich schuldig (auch sich selbst gegenüber). Ich weiss relativ genau, was Schweigen für Täter bedeutet, nämlich Komfort, freies Spiel und ausbleibende Strafverfolgung.
So. Die #Aufschrei Debatte hat das Schweigen gebrochen, wenigstens mal kurz und für ein paar Wochen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass das halten würde. Aber ich sehe, was sich bei mir verändert hat, in meiner Firma (haben schon Vertrag mit einem Dienstleister gekündigt, der übergriffig war, auch das war bis dato verschwiegen worden), in der Öffentlichkeit, in der SPD mit ihren zahlreichen aufrichtigen Veranstaltungen in den letzten Wochen und an unzähligen anderen Stellen die ich jetzt nicht aufzählen kann. Ich finde die Initiatorinnen haben einen Publikumspreis für Mut und Aufklärung verdient, z.B. auf der re:publica.
Aber was wir nicht tun sollten ist irgendeinen Zweifel aufkommen lassen an der Richtigkeit und der starken Wirkung des Aufschreis. Das ist nur ein Schweigemechanismus zweiter Ordnung, der da angeschlichen kommt. Ich jedenfalls möchte dem unvermittelt in die Fresse hauen.

*und ich weiss genau, wie ich mich gleich wieder schlecht fühlen werde nachdem ich auf ‘publish’ gedrück habe, fuck it.

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18 Responses to “Ihr fragt ob #Aufschrei was bewirkt hätte, really?”

  1. PickiHH

    Danke für Deine Offenheit und den Mut doch “publish” zu drücken.

  2. Pausanias

    Was PickiHH sagt!

  3. calceola

    Dieser verdammte Klos im Hals, dem einen die Angst bringt.
    Schweigen ist nie die Lösung und mögen wir hoffen, das immer weniger geschwiegen wird. Danke für das “publish” drücken.

  4. kathy

    danke!

  5. Britta

    Danke, du fasst es in die Worte die mir fehlen.

  6. Susa

    Danke
    – dafür das Du Dein Schweigen gebrochen hast
    – dafür das Du nicht wieder ins Schweigen verfällst

    – für Deinen Mut zu Offenheit und Aufrichtigkeit, zu Schwäche und Verletzlichkeit

    Die Gespräche zeigen mir übrigens das derartige Übergriffe auch gegenüber Jungs nicht so selten sind wie es – dank Schweigens – den Eindruck macht.

  7. Birgit

    Mir kommen da auch die Tränen. Aus Mitgefühl. Aus Wut. Und Freude, dass Du es öffentlich sagst.

  8. Marco

    Hochachtung!

  9. DHYAN

    …aufgrund diverser Erfahrungen und auch aus anderen Gründen möchte ich mich dem “Fresse hauen” anschließen… aber ich vertraue weiterhin der Kraft der Worte und der klaren Haltung…Danke für etwas eigentlich Selbstverständliches > Mit-Teilen !

  10. oliver

    .

    (auch wenn die lektüre der geschichten so gut wie jedes mal beklemmende gefühle verursacht, bin ich “froh” um jede geschichte, die jetzt im internet, im alltag und im gespräch ist und nicht weiter übergangen oder verschwiegen wird. ich unterschreibe jeden deiner sätze und versuche meine beitrag zu leisten, dass sich was verändert hat.)

  11. K.

    Ich sehe ein, dass mein Kommentar etwas unpassend wirkt, aber vielleicht – und so ist er gedacht – hilft er ja auch Deine Verzweiflung zu lindern. Wenn es so ist, dass statistisch jede 3. Frau einen sexuellen Übergriff erleidet, dann ist die Chance, dass es Deine Töchter nicht trifft nicht 0%, sondern etwa 30%.

  12. M'Ick's

    Das scheinbar Östrogen-getriebene Unvermögen der stochastischen Analyse befeuert die Panik um sexueller Gewalt. Tatsächlich ist die rein mathematische Antwort auf die Töchter-Frage 70,37%, die einzige politische der SPD die Quote. Beide sind natürlich unzureichend und unzulänglich, wie die SPD überhaupt.

  13. Jens Müller

    Das mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung müssen wir aber nochmal üben…

  14. julia seeliger

    Tja das ist die Kernfrage: Macht “publish” es besser? Ich bin da tatsächlich inzwischen zweifelnd.

    Früher dachte ich ja, dass Öffentlichkeit der Geschlechterfrage gut tun kann. Dafür habe ich den Trollfeminismus erfunden.

    Ja: Schweigen wurde gebrochen. Ja: es wurde geredet. In der Missbrauchsdebatte in der Kirche ja übrigens auch. Und was ist passiert? Der mutige Mann, der die Debatte ausgelöst hat, ist nicht mehr am Canisius-Kolleg in Berlin, sondern in St. Blasien, einer Schule in Süddeutschland. Keine Ahnung, ob das was miteinander zu tun hat. Ich fürchte es fast.

    Genauso mit der nun ausgelösten Geschlechterdebatte. Führt das alles weiter? Denn es wird so viel missverstanden. Hier kommen wir zum Kerproblem der PostPrivacy: Informationen werden ihrem Kontext entrissen und in einen anderen gestellt. Man hat es nicht mehr unter Kontrolle und dieser Kontrollverlust kann bei einem derart emotionalisierten Thema schmerzhaft für einen selbst und tödlich für sinnvolle Debatten sein.

    Ich merke, wie selbst Männer, die mir (ich dachte das zumindest) nahe stehen, mir erst einmal “Emotionalität” unterstellen. Wie ich in einen Topf geworfen werde mit Männern und Frauen, mit denen ich nicht in einem Topf sein will. Wie von Reaktionären alles zusammengerührt wird und differenzierte Debatte mit dem Begriff des “Tugendfurors”(der das selbe ist wie “Kackscheiße” auf der “anderen Seite”) totgemacht.

    Mein Feminismus war der von Alice Schwarzer nie und meine Männer waren die doofen Klötze nie. Nun wird mir unterstellt, ich sei auch gegen die emotionalen Männer und für die Rape-Culture-Mädchen.

    Es ist hoffnungslos, weil alle Beziehungserfahrungen haben, die ihr Geschlechterbild prägen, weil alle meinen, was Sinnvolles beitragen zu können und weil Männer und Frauen auf einen Standpunkt festgenagelt werden, von dem sie nicht mehr runterkommen. Die Fronten sind jetzt vielleicht sogar verhärteter als vorher.

    Vergessen wird leider auch, dass nicht nur Männer Arschlöcher sein können, sondern Frauen genauso. Ich habe lange geschrieben, Männer sollten “ihre Gefühle entwickeln” – dabei aber vergessen, dass Frauen das genauso müssen. Für Männer ist es schwer, den ersten Kuss zu machen und Frauen ruhen sich gerne auf ihrer Geschlechterrolle aus (und damit meine ich nicht, dass Übergriffe ok sind – sondern, dass es einfach jedes Mal schrecklich “kompliziert” ist)

    Natürlich braucht die Geschlechterdebatten Wellen und der Feminismus hat solche immer gehabt und das ist richtig so und somit könnte Aufschrei eine weitere Erschütterung sein. Aber was verändert Aufschrei? Am Ende werden alle mal drüber geredet haben, alle haben ihre Meinung gesagt und dann ziehen sich alle wieder ins Private zurück.

    Und ich bin inzwischen so weit, dass ich mir das fast wünsche. Da ist eine Horrordose aufgemacht worden, die nicht mehr zugeht. (Muss aber auch einräumen, dass das für mich schon seit November geht, da fing ich an, meinen CCC-Kongressworkshop vorzubereiten, dann war die CreeperCardDebatte, dann Aufschrei) Ich hoffe, der Winter ist bald vorbei und auch die Geschlechterdebatte und wir alle können uns alle mal wieder über was anderes unterhalten.

    Mir reicht es langsam.

  15. holadiho

    Hi Julia,
    doch, es funktioniert. Nur halt nicht so einfach, nicht sofort, nicht sicher. Ist nur ein Startpunkt und natürlich verpuffen all die Brüderles nicht bloss weil wir einmal ‘da’ gesagt haben (etwa so: http://www.youtube.com/watch?v=GEStsLJZhzo). Man muss halt darauf aufbauen und Durchhaltevermögen haben. Das Schweigen brechen hat übrigens nicht nur aufklärerische und anklagende Funktion, sondern es solidarisiert auch und kann im besten Fall Machtverhältnisse umdrehen.
    Stephan

  16. Julia Wierich

    Danke.

  17. julia seeliger

    Es ist kompliziert.

    Mich wies einer darauf hin, dass Herr Brüderle und Herr Beck zu ihrer Regierungszeit bei sich im Lande eine Quote (zwar nur 20 Prozent, aber immerhin) für den Öffentlichen Dienst, also zB Wissenschaft eingeführt haben. Das frappierte mich. Keine Ahnung, ob so etwas auch in anderen Bundesländern so der Fall ist, müsste man mal recherchieren. Ich mag inzwischen nicht mehr Herrn Brüderle als Symbol nehmen, auch wenn das für SPD und Grüne ein schönes Wahlkampfthema ist. Ich finde das inzwischen billig.

    Meine Erfahrung ist, dass attraktive Männer und, leider muss ich es einräumen, eher an konservativen Werten orientierte, nicht solche Kackscheißer sind wie viele der “Alternativen”. Aufschlussreich diese Replik auf das Pfaller-Interview in der FAZ:

    Nun gibt es keine Benimmbücher mehr und ich wüsste daher auch nicht, wie sich die Rolle einer Dame komplett ausfüllen ließe, zumal in mir auch ein Punkmädchen, eine Hippiebraut, eine DDR-Frau, eine Studentin, eine Praktikantin, eine Assistentin, eine Kinderkrankenschwester, eine Radiojournalistin und zahlreiche andere Rollen und Rollenvorbilder wohnen. In der Rolle des Punkmädchens ließe sich eine Ohrfeige noch am besten mit meinem Über-Ich vereinen.

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    Natürlich beinhaltet die Rolle des Punkmädchens auch so kuriose Dinge, wie jemanden spontan zu küssen oder andere Dinge, die eine Dame niemals tun würde. Ich weiß nicht, was mit meinen Rollen los war, dass ich sehr, sehr häufig belästigt worden bin in meinem Leben, ob mal weniger naiv oder mehr. Trotzdem ist es passiert. Und Sie Herr Pfaller würden vermutlich jetzt sagen, wo kein Herr, da auch keine Dame. Ach, nein – würden Sie nicht. Das ist die Antwort, die mich sehr wütend gemacht hat.

    Wir haben also, wie Nina Pauer konstatierte, allerdings mit “falschen” Schlussfolgerungen, in der neuen Zeit der angetauten Geschlechterrollen auch Probleme mit der Anbahnung, weil bisherige Praxen nicht mehr funktionieren. Ich aber will nicht zurück ins 19. Jahrhundert. Was also tun?

    Wie auch immer, was wäre denn das Ziel der Debatte? Wem nützt das Geschrei der Mädchenmannschaft und ihrer williger Helferinnen?

  18. julia seeliger

    ich habe ein blockquote vergessen, anscheinend.

    … Das ist die Antwort, die mich sehr wütend gemacht hat.

    /blockquote (Hier endet das Zitat und es fängt dann wieder mein Text an)

    Wir haben also, wie Nina Pauer …

    (Diesen Kommentar kann man nach der Korrektur löschen)

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