Daten und Solidarität

Vor einigen Jahren saß ich mit @horax in einem stickigen Münchner Büro bei unserem damaligen Arbeitgeber TNS Infratest. Man hatte uns dorthin entsandt, weil wir bekannt waren für ungewöhnliche Datenanalysen und man glaube ich nicht so genau wusste, was man mit uns machen sollte. Idee war aus Gesundheitsdaten Ableitungen für die CRM-Abteilungen diverser Pharmakonzerne zu machen. Was soll man lange drumherumreden. Man kippte uns ein paar Daten auf den Tisch und bat uns zu schauen was man machen könne, die Daten seien leider künstlich beschnitten – um gerade den entscheidenden Teil. Die Daten war eine Datenbank mit Verschreibungsdaten die auf sogenannte „Nanobricks“ gemappt waren – das entpuppte sich als eine Verklumpung mehrerer Arztpraxen, denn aus Datenschutzgründen durften keine solche Daten auf Praxis-Ebene existieren. Die wiederum gab es bruchstückhaft aus anderen Quelle für ein paar Praxen wo sich ein Arzt gegen ein paar Euro dazu überreden liess sie – halbwegs anonymisiert – herauszugeben. Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, also ich zumindest. Wenige Wochen später hatte ich einen Termin bei einer großen Krankenkasse, wiederum ein Datendialog, ähnliches Ergebnis. Krankenkassen hatten keine Verschreibungsdaten ihrer Versicherten. Mich verwirrte das – wie konnte das sein, dass diese Daten nicht verfügbar waren (die Krankenkasse hatte übrigens durchaus eine Riesen-CRM Datenbank mit Algorithmen und pipapo, nur halt nicht die Verschreibungsdaten…)? Und da gabs noch kein Big-Data und keine Strata-Konferenz und kein Hadoop. Offensichtlich war hier ein starkes Anti-Daten-Regime im Gange, und das selbst in einem Multi-Milliarden-Business wo Pharmakonzerne ganze Heerscharen von Vertrieblern durchs Lande schickten um ihr Zeug an den Mann und die Frau zu bringen.
Natürlich hat das was mit Datenschutz-Aspekten und gesetztlichen Vorschriften zu tun – doch darauf will ich jetzt gar nicht eingehen.
Ich bin nämlich ein Fan der gesetztlichen Krankenversicherung. Und das obwohl ich seit Jahren über der Pflichtversicherungsgrenze liege und schon zigmal irgendeinem Finanz-Heini eine Absage erteilen musste, als er sagte „das erste was wir tun sollten ist sie privat versichern“. Übrigens – nebenbei gesagt: Weil er mir helfen wollte Geld zu sparen – beim Wechsel in die Private spart man gerne mal bis zu 200 EUR monatlich (selbst mit Kindern). Ist wichtig zu sagen weil privat Versicherte gerne den Mythos pflegen sie würden das Gesundheitssystem finanzieren… Warum ich Fan der Gesetzlichen bin ist relativ schnell erklärt, weil dafür ausser einem kaum ein Grund in Frage kommt: sie ist solidarisch. Mit meinem Mehrbeitrag finanziere ich die Gesundheitsleistung von ein paar Geringverdienern, Alleinerziehenden oder sogar Illegalen die mit geliehener Karte zum Arzt gehen. Die Leistung ist schlechter als in der Privaten aber es ist eine immer noch gute Leistung die dafür allen zugänglich gemacht werden kann. Neben dem direkten und leicht erkennbaren sozialen Wert solcher Einrichtungen halte ich derartige Konstrukte für Errungenschaften hoch entwickelter Gesellschaften (siehe USA, bzw. not). Dass man solidarische Systeme schafft in die auch Leute mit schwacher Leistung reinkommen ohne traktiert zu werden, ja Systeme die sogar Missbrauch aushalten und mitfinanzieren.
Aber zurück zu den Daten. Offenbar haben wir nicht nur ein paar gute solidarische Komponenten in unserer Gesellschaft sondern konnten diese auch gut absichern was die Sammlung und den Zugriff auf die Daten anbelangt (wer schon die neue ‚Gesundheitskarte jetzt neu mit Foto’ in der Tasche hat kann sich ja mal vorstellen was das für Illegale bedeutet).
Und ich glaube es gibt da einen wichtigen Zusammenhang, denn was @horax und ich damals (übrigens weitgehend erfolglos) probierten war den Praxisbezug in den anonymisierten Daten wenigstens grob rechnerisch/statistisch wiederherzustellen. Um dem Pharma-Vertriebler ein Werkzeug an die Hand zu geben, dass er sein neues Medikament nur den Praxen zur Verfügung stellt die hohen Absatz in Aussicht stellen können. Und aus heutiger Sicht ist das natürlich bedrohlich wie ein Strauß Gänseblümchen für den Muttertag. Gerade wurde auch in Deutschland der erste KFZ-Versicherungstarif mit GPS-Tracking eingeführt. Ein Gesundheitstarif massgeschneidert nach persönlichem Risiko (gemessen an Verschreibungs- und Gesundheitsdaten) ist sicherlich längst in der Mache – wer heute eine Lebensversicherung oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschliessen will kennt das längst (die BU wurde übrigens von einer solidarisch allen zugänglichen staatlichen Leistung vor einigen Jahren in eine privat zu beziehende umgewandelt – die leider nur noch bestimmten Menschen, deren Daten stimmen, zugänglich ist).
Worauf ich hinaus will – Daten und BigData kommen vor allem mit einem Versprechen – Dinge zurechenbar zu machen. Jeder Datenpunkt ist ein Faktor in der individuellen Risiko-Kalkulation und Verhalten wird direkt in Prämie umgerechnet. Diese Modelle – egal ob es um Kreditrisiko oder Buchempfehlungen geht versuchen immer individuell zu sein, individuell ist die Königsklasse. Übrigens auch das Faszinosum, also hochindividuelle Empfehlungen, egal ob bei Partnervermittlung oder Urlaubsreise oder Fitnessberatung ist unser Streben in den Startups und Digital-Businessplänen.
Und wir Big-Data und Digital-Apologeten natürlich vorne an, wir lieeeben ja Data. Wirklich.
Meine Frage ist aber was das für Auswirkungen für solidarische Systeme hat wie meine gesetzliche Krankenversicherung mit ihren multipel abgeschotteten Daten, die sich einer CRM-Verwertung so standhaft entziehen? Oder anders gefragt: Wieviel neoliberale Anteile kaufen wir stillschweigend bei Big-Data und seinen Anwendungen mit ein?
Noch ein anderes Beispiel: Alle sind ja begeistert von der neuen Sharing-Kultur, right? Habt ihr schon mal in so einem Airbnb Haus gelebt, also dauerhaft? Das ist wirklich schrecklich, weil das Haus eben plötzlich so persönlich und verbindlich ist wie ein Ibis-Hotel. Man kennt niemanden, fremde Menschen begegnen einem auf dem Gang und man macht sich gar nicht die Mühe so eine sanfte auf-dem-Gang Beziehung aufzubauen wo man nach 3 Monaten leise Hallo murmelt weil die Person eh in einer Woche nie mehr gesehen werden wird.
Sharing-Kultur heisst eben auch Zerstörung von sozialem Lebensraum, in diesem Fall der Hausgemeinschaft. Es heisst übrigens auch Kommerzialisierung einer Sache die bis dato privat war – nämlich seine Wohnung jemandem überlassen den man kennt und nett findet (oder sein Werkzeug, sein Auto usw.). Und vertrauenswürdig. Achso, dafür gibt es ja jetzt ein Bewertungs-System und eine Versicherung, stimmt.
Auch diese Debatte gibt es ja, New York versucht AirBnb einzugrenzen durch gesetztliche Vorgaben und in Berlin gibt es ähnliche Überlegungen. Alles viel gescholten von der Digital-Industrie als Innovationsfeindlichkeit und Verhaftetheit mit dem alten, voll Bouffier-haft eben.
Und ich denke so – haben wir die gesellschaftlichen Effekte von Big-Data und seinen Anwendungen ausreichend bedacht?
Gibt es Möglichkeiten Entsolidarisierungseffekte von BigData-Anwendungen zu verhindern oder gar ins Gegenteil zu verwandeln? Ich weiß, die Sharing-Kultur kommt ja häufig explizit mit diesem Versprechen sozial zu sein daher, so ganz glaube ich das halt nicht. Ist nicht in dem Opaken der Daten, also der Nichtverfügbarkeit, Undurchlässigkeit etwas konserviert was wir mit Datentransparenz notwendig auslöschen? Und – was ist in diesem Fall eigentlicht Transparenz – ist das nicht eher Einschränkung von Autonomie die sich im Opaken nur entfalten konnte unter dem Mäntelchen des Empowerment? Und überdies – warum führen wir eigentlich die gesellschaftlichen Debatten die zu den obigen Datenschutzbestimmungen und zahlreichen anderen Schutzprinzipien geführt haben in Bezug auf BigData nicht?

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7 Responses to “Daten und Solidarität”

  1. Ansch11

    Hallo, können Sie mir die Versicherung mit den GPS Tarif sagen? Vielen Dank Andreas Schumann

  2. mspro

    Na, ein bisschen zu viel Morozov geschnüffelt, wie? ;)

    Abgesehen von deinem “meine Hausgemeinschaft ist so unpersönlich”-Gejammer (meine war es nie, auch nicht vor Sharing und Big Data), ist die Lösung so offensichtlich, dass ich es komisch finde, dass du sie nicht ansprichst.

    Wenn wir ein solidarisches Krankenversicherungssystem haben wollen, müssen wir nur eins bauen. Das hat nichts mit Big Data zu tun, sondern mit politischem Willen. Big Data macht Unsolidarität möglich, dort wo wir Unsolidarität zulassen. Mach doch also nicht das zunehmende Wissen dafür verantwortlich, wenn das Wissen gegen Menschen missbraucht wird.

    Das Rezept, dass aus deinem Jammern folgt, ist: Wir müssen dumm bleiben, denn Dummheit schützt vor Diskriminierung. Das ist aber falsch, das tut es eben nicht. Ohne Daten wird nur ineffektiver diskriminiert. Der zu verteilende Topf bleibt der selbe, die Anzahl der Diskriminierten bleibt die Selbe, der Grad an Unsolidarität bleibt auch der selbe.

    Also jammer nicht über Datenauswertung, sondern setz dich politisch für ein solidarisches, diskriminierungsfreies Gesundheitssystem ein. Und wie wir das am besten bauen, sagen uns wahrscheinlich die Daten.

    PS: kündige am besten dein FAZ Abo. Es tut dir nicht gut. ;)

  3. holadiho

    Hey Michi, mag sein, dass ich jammere aber wenigstens trage ich kein FAZ-Trauma mit mir rum.
    Zur Sache: Ist mir schon klar, dass wir ein solidarisches Gesundheitssystem bauen müssen – wir HABEN es ja gebaut. Und mir fällt halt auf dass – sagen wir mal Korrelationen von Zugänglichkeit von Daten und Solidarität gibt, und zwar negative. Wenn Du jetzt also in dieses Gesundheitssystem mehr Datentransparenz einführst (wie es ja gerade mit der neuen Gesundheitskarte passiert, aber auch z.B. mit Disease-Management-Programmen) läufst Du meiner Ansicht nach Gefahr genau den solidarischen Kern zu unterminieren, ganz konkret z.B. daran zu spüren dass niemand mehr mit einer fremden Krankenkassenkarte zum Arzt gehen kann. Vor allem aber führt die Verfügbarkeit von individuell zurechenbaren Daten fast automatisch (so meine These) zu einer individuellen Berechnung von Risiken und damit zur Entsolidarisierung. Da sollten wir vielleicht eher etwas _nicht_ bauen, oder?

  4. mspro

    < "Ist mir schon klar, dass wir ein solidarisches Gesundheitssystem bauen müssen – wir HABEN es ja gebaut."

    Wie – um alles in der Welt – kommst du den steilen Zahn, zu behaupten, wir hätten ein solidarisches Gesundheitssystem?

    Klar, wir haben ein solidarisches Gesundheitssystem. Sogar mehrere. Eines für Geringverdiener und ein paar für Gutverdiener. Ist doch alles tutti!

    Mir scheint, du solltest dich auch geistig mal von der SPD lösen. Das bekommt dir auch nicht gut.

  5. Panke

    mspro sagt: “Mach doch also nicht das zunehmende Wissen dafür verantwortlich, wenn das Wissen gegen Menschen missbraucht wird.”

    Gut gebrüllt: Was kann denn auch das “Wissen” dafür, dass es gegen Menschen missbraucht wird. Schließlich töten auch nicht Waffen andere Menschen sondern die Menschen sich selbst. Soweit – so naiv.

    Michael Seemann will einfach nicht (ein)sehen, das er mit seinen Thesen (Big Data für Alle / sponsored by co:/lab) mehr kaputt macht, als sein vermeintlich emanzipatorischer Anspruch zu Veränderung anregen kann.

    PS: Vermutlich hat er bisher auch noch nie etwas von DMP und Morbi-RSA gehört.

  6. holadiho

    Ich finde die SPD-Position dazu ziemlich gut, private KV abschaffen, alle in die solidarisch organisierte GKV.

  7. Alex

    Hallo Stephan,

    herzlichen Dank für das Teilen der Gedanken in diesem Blogpost! Ich bin der Meinung, dass gerade die in der Tech Branche aktiven Menschen (ich arbeite für einen Berliner VC) besondere Verantwortung in puncto Meinungsbildung und Aufklärung in Sachen Tech Trends trifft.

    Die Wirtschaft wird Gesetzgebern und der breiten Masse immer massiv voraus sein und den Wissensvorsprung für ihre Vorteile nutzen (missbrauchen klingt so scharf…). Politik und Zivilgesellschaft müssen hier schneller werden und den “Gap” verkleinern – fragt sich nur wie…

    Ich freue mich über weitere spannende Blogposts!

    BG
    Alex


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