Wie ich überraschend zum Europa-Skeptiker wurde in den letzten Tagen

Ich gehöre an sich zu denen, die immer schon für Europa waren. Aus einem Reflex heraus. Weil eine andere Option nicht denkbar war. Weil die CSU dagegen war und Merkel nur privilegierte Partnerschaften anbot. usw.
Ich glaube das ist bei vielen so. Man ist froh, dass die Zeit der Nationalstaaten vorbei zu sein scheint und die ganze europäische Einigung ist ja auch ein Prozess von höchster historischer Bedeutung. Ausserdem hat man die Hoffnung, dass Europa Annehmlichkeiten bringt zu denen letztlich auch gehört, dass es immer so chaotisch und multilateral bleiben wird, dass eine gemeinsame Armee und eine irgendwie konzentriert kriegerische Strategie einfach unerreichbar scheinen.
Aber es war schon auch die Idee ein demokratisch legitimiertes europäisches Parlament (oder eine Kommission, egal) zu haben das den nationalen Parlamenten Einhalt gebietet und eben die europäische Idee vertritt und vorantreibt.
(das war übrigens der einzige Moment überhaupt wo ich den Kohl mal sympathisch fand weil er extrem konsequent für Europa gesprochen und gearbeitet hat)
Kritik an Europa und den idiotischen Vorschriften und Normen die von dort kommen aber auch an den Subventionen usw. habe ich immer ins irgendwie CSU-nahe Lage gepackt und damit pauschal abgewiesen.
Das hat sich jetzt geändert.

Denn ich hatte ein erstes mal persönlichen Kontakt mit der EU-Administration, und das war schlimm.
Der Anlass ist die aktuelle Diskussion um das Telecompaket das in der Öffentlichkeit vor allem im Zusammenhang mit der französischen 3 Strikes Idee wahrgenommen wird (Internetsperren bei illegalen Downloads).
In diesem Paket ist ein Entwurf der tchechischen Ratspräsidentschaft enthalten der unter e-privacy Richtlinie bekannt ist und bzgl. Cookie-Handling Neuregelungen treffen soll. Konkret wurde da überraschend vorgeschlagen Cookies generell nur noch mit Opt-In zuzulassen. Spiegel Online hat dazu einen netten Artikel geschrieben der eindrucksvoll darlegt wie idiotisch diese Richtlinie in der Konsequenz wäre.
Für mich konkret ist diese ganze Sache relevant weil es meine Firma sehr konkret betreffen würde – unser Geschäftsmodell des Predictive Targetings setzt zentral die Nutzung von Cookies voraus und würde mit einem derartigen Opt-in vermutlich nicht mehr so gut funktionieren. Ärgerlich ist das vor allem deshalb weil wir uns schon vor langem intensiv mit den Datenschützern auseinandergesetzt und eine Lösung gefunden haben die mit Cookies arbeitet aber dennoch höchsten Datenschutz-Standards genügt. Aber das ist eine andere Geschichte…
Jedenfalls haben wir diese missliche Gesetzes-Initiative da in Brüssel auf dem Tisch und irgendwie haben das viele auch erst relativ spät bemerkt.
Was wir gemacht haben ist die Verbände zu aktivieren. Sowohl das IAB Europe in Brüssel, der BVDW aus Berlin heraus, der VDZ (Verband der Zeitschriftenverleger) und vermutlich noch zig andere Interessensverbände wurden aktiviert und haben massiv in Brüssel interveniert. Mit Schreiben, persönlichen Treffen mit Parlamentariern, Eingaben und Teilnahme an Anhörungen usw. Ich selbst war bei mehreren dieser Initiativen eingebunden und informiert und habe auch darauf gedrungen alles zu unternehmen um den Entwurf in dieser Form zu verhindern.

Eigentlich ganz normal, oder?

Nein, finde ich nicht. Es sind mehrere Dinge die ich daran ekelhaft finde und die mich an der demokratischen Verfassung des EU-Parlaments zweifeln lassen.

Zum einen war das ganze Gesetzgebungsverfahren extrem intransparent. Selbst heute noch kann mir keiner genau erklären ob der uns betreffende Text jetzt in den Richtlinien selbst verankert werden sollte oder nur in den Erläuterungen. Und inwiefern dies als integraler Bestandteil des Telecompakets zu sehen ist wovon die Parlamentarier vor allem das französische 3-Strikes Verfahren ablehnen. Ich bin wirklich politik-affin und einigermassen gebildet und habe in dieser Sache auch Fachwissen. Aber ich habe bis heute nicht richtig verstanden was dort formell genau passiert, welche Konsequenzen es ggf. für nationales Recht hat und wer da überhaupt welche Position vertritt. Ich habe sogar versucht mich in die Anhörung/Abstimmung online einzuklinken – denn die Jungs betreiben da wirklich viel Aufwand und die Sitzungen werden alle gestreamed mit Kommentaren und begleitenden Dokumenten und so. Als ich reingeswitched bin wurde gerade ein unglaubliches Sammelsurium von allen möglichen Themen abgehandelt und die Parlamentarier hatten immer 1-Minuten slots um dazu etwas zu sagen. Nach der Minute wird das Mikro abgedreht. Wirklich krass. Ich fühlte mich jedenfalls an ein paar schöne Szenen aus Kafkas “Schloss” erinnert…
Das zweite was ich definitiv noch schlimmer fand war die Tatsache, dass ich selbst plötzlich einen Apparat genutzt habe den ich für den widerlichsten Auswuchs der Demokratie überhaup halte: Lobbyisten.
Denn die Verbands-Funktionäre die wir zahlreich (und das war nur aus Deutschland) eingesetzt haben um das Ding noch in unserem Sinn zu drehen waren allesamt keine demokratisch legitimierten Volksvertreter sondern das waren natürlich einfach bezahlte Lobbyisten mit völlig klaren Vorgaben was zu erreichen war.
Das hat mich schockiert. Mehr aber noch hat mich schockiert, dass es de facto für mich die einzige Möglichkeit war auf dieses für meine Firma vitale Gesetzgebungsverfahren überhaupt Einfluss zu nehmen.

Da ist doch irgendwie krank, oder?

Ich habe zufällig mitbekommen wie – fast zeitgleich – die Marktforschungs-Industrie sich gegen die deutsche Gesetzgebung im Rahmen des Datenschutzgesetzes wegen Wegfall des Listenprivilegs usw. gewehrt hat. Das war wirklich anders, denn hier sind Vertreter der Marktforschungshäuser im Gespräch mit den Politikern gewesen in Berlin unter Beteiligung von Fachanwälten und Spezialisten aus den Ministerien. Das finde ich ok – so sollte demokratische Meinungsbildung in so fachspezifischen Themen ruhig laufen. Aber diese Lobbyisten-Nummer kann irgendwie nicht richtig sein.

Komischerweise kommen mir vor diesem Hintergrund die CSU-Parolen gegen Europa plötzlich gar nicht mehr so unplausibel vor – was auch wieder schlimm ist.

Category: Wahljahr 4 comments »

4 Responses to “Wie ich überraschend zum Europa-Skeptiker wurde in den letzten Tagen”

  1. Ingo Seifert

    Gut gebrüllt, Löwe!

  2. Will Sagen

    Willkommen im Leben.

    Wenn man einmal wirklich persönlich von anstehenden politischen Entscheidungen betroffenist und man beginnt, sich dort einzuklinken, merkt man erst, wie weit die “Demokratie” inzwischen verkommen und wie ohnmächtig man ist.

    Ich würde das, was du schreibst, nicht auf Europa beziehen, sondern auf Verwaltungs-, Verordnungs- und Gesetzgebungsprozesse allgemein. Traurig, aber wahr.

  3. Herodot

    Ich gebe jedoch zu bedenken, dass Union (trotz CSU) die eigentliche deutsche Triebkraft hinter der Europäischen Union war.

    Lafontaines Aussagen aus dem guten DM Zeitalter möchte ich hier garnicht erst posten müssen, ich glaube die hat jeder noch im Kopf.
    Und die roten Genossen waren damals noch auf seiner Schiene.

    Nein, Europa gebührt vielleicht nicht der CSU, aber zumindest der CDU&FDP.

  4. eu: cookies verfallen in 18 monaten « qrios

    […] Monaten die Mitgliedsstaaten der EU Gesetze erlassen, die Opt-In für Cookies bindend vorschreiben. Das ganze war absehbar, ist aber dennoch ein echter […]


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