twitter kultiviert den polnischen Abgang

Das Prinzip follow und unfollow wird gemehinhin als großer Vorteil von twitter gesehen. Follow ist gut weil es eine Opt-In Rezeption ist – man also nur von Leuten liest für die man sich explizit entschieden hat. Und in unfollow wird sozusagen der umgekehrte Vorteil gelesen. Wenn einer nervt wird er unfollowed. Es werden regelrechte Unfollowing-Aktionen gemacht über die man dann euphorisch schreibt usw.

Scheint also alles perfekt zu laufen.

Trotzdem fällt es vielen sehr schwer einfach hinzunehmen wenn bestimmte Leute ihnen einfach kommentarlos unfollowen. Bei mir war das z.B. kürzlich mit @zeitrafferin so die einfach sang und klanglos auf den off-button gedrückt hat. Jetzt kenne ich sie zwar nicht persönlich (würde ich gern), aber wir haben uns schon verschiedentlich per Reply auf twitter ausgetauscht. Ich habe mich im web ein bisschen informiert wer hinter @zeitrafferin steckt und war ziemlich fasziniert. Habe sogar anderen (offline) darüber erzählt, z.B. über die coole Rede mit der @zeitrafferin völlig überraschend in den Parteirat der Grünen gewählt wurde. Ist mir klar, dass das vermutlich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte und dass aus meinem Interesse keinerlei Ansprüche irgendwelcher Art resultieren. Aber irgendwie tut es doch ein bisschen weh eine sehr geschätzte followerin einfach so kommentarlos zu verlieren.

Und wenn ich jetzt überlege wieviele Leute mir bereits unfollowed sind in den letzten Wochen – es müssen hunderte sein – dann fange ich noch mehr an zu grübeln über dieses „feature“ in twitter.

(ich vermute viele von Euch kennen dieses leicht klamme Gefühl beim täglichen Lesen der unfollow Berichte der einschlägigen tools)

Was mich daran stört sind im Prinzip zwei Dinge:

1. es ist eine sehr unterentwickelte Kommunikationskultur die sich im unfollowen ausdrückt. Man könnte auch sagen totale Beliebigkeit – sobald mir irgendwas nicht passt an einer Person drücke ich einen Knopf und sie ist weg, total ausgeblendet aus meinem Sichtbereich. Häufig merkt die betreffende Person das noch nichtmal und schreibt munter weiter (sicherlich auch kein Zufall, dass twitter per se keine unfollowing-Benachrichtigungen kennt). Das ist also ungefähr so als würde @zeitrafferin die heute auf dem tazkongress ist in einer Debatte nach einer Äusserung die Ihr nicht passt einfach den Raum verlassen und aus. Oder als würde @saschalobo bei einer kritischen Rückfrage kommentarlos das Podium verlassen (noch nichtmal sauer oder aufstampfend. Einfach weggehen). Was mir daran fehlt ist das Diskursive, die Debattenkultur sozusagen. Jetzt ist es nicht so, dass mir die Auswüchse nicht bekannt wären die eine solche digitale Debattenkultur häufig haben kann. Man muss nur die Foren bei heise.de durchblättern um sich die Eleganz des unfollow-Konstruktes vor Augen zu führen. Aber dennoch macht dieses feature twitter ein ganzes Stück beliebiger, weniger spannend, weniger herausfordernd. Ich hätte gerne mit @zeitrafferin gekämpft bevor sie geht und hätte sie gerne unter Protest die Bühne verlassen gesehen (und @saschalobo unter Aufstampfen vom Podium verschwinden…). Auf der anderen Seite haben die Follower die man halten kann natürlich eine ganz andere Bedeutung wenn es so leicht ist zu unfollowen…

2. es zerstört für mich eine Beziehungsebene die ich bei twitter sehe – das mag ein bisschen romantisch interpretiert sein aber dazu stehe ich. Für mich entsteht eine Beziehung zu vielen meiner Follower und Leuten denen ich followe. Verdammt, ich widme Euch so viel Zeit, so viel Leidenschaft, Kreativität und Aufmerksamkeit! Ich lese Eure Beiträge, tage- und wochenlang, auf dem Klo, auf Reisen, als erstes nach dem Aufstehen. Und dann einfach abhauen? Ist doch irgendwie krank, oder? Ich finde das vor allem deshalb schade weil ich die Art der Beziehung zwischen Followern sehr speziell und neu finde. Ich mache mir heute z.B. Gedanken über die Hochzeitsträume von @mianiemand. Wow. Ich entwickle eine Beziehung zu meinem Konkurrenten über dm’s die wir über andere Kommunikationswege nie hatten. Ich freue mich auf den nächsten tweet von @moellus und @ingmar_heinrich weil sie meistens genial sind. Ich habe eine ganz neue Seite am @horax kennengelernt (er auch glaube ich) obwohl wir seit Jahren zusammenarbeiten. Und natürlich führe ich meine Beziehung zu @pickiHH aufs Trefflichste über twitter. Im Ernst nochmal: für mich sind das häufig zarte und sehr spannende Bande die sich nicht selten von dem Zeitpunkt an entwickeln wo eine Followerbeziehung beginnt. Und da ist der Unfollow-Button ungefähr so passend wie ein Schlachterbeil.

Was wären eigentlich Alternativen? In vielen Fällen würde eine bestimmte twitter-Kultur vermutlich schon ausreichen. Das heisst ein bisschen mehr Debatte, mehr aushalten von nervigem und Dingen die einen stören in der Hoffnung darauf, dass wieder Glanzlichter folgen und sich auf Dauer etwas entwickelt. Und wenn es gar nicht mehr geht halt entfollowen, aber dann vielleicht mit einer kurzen dm und einer Begründung. Hört sich total spiessig an, ich weiss. Wahrscheinlich ist es das auch.

Ich glaube übrigens, dass das noch nicht ausreichen würde, denn viele der twitter-Beziehungen sind vermutlich lange Zeit einseitig. So wie bei mir und der @zeitrafferin. In solchen Fällen würden die obigen Regeln gar nichts helfen weil das Gegenüber gar nicht auf die Idee käme das es etwas zu kommunizieren gibt. Aber wie wäre es wenn twitter bei jedem Unfollow einfach nur ne Box anböte mit einer Begründung für den Schritt? Die man natürlich leer lassen könnte…

Mir ist übrigens schon klar, dass diese Sozial-Radikalität auch ein grosser Vorteil ist bei twitter – kann sein, dass meine Überlegungen da völlig kontraproduktiv wären. Aber ich würde mir eine gleichermassen sozial und kommunikativ produktive Plattform wünschen mit ein bisschen mehr Verbindlichkeit – ja genau, das ist das richtige Wort dafür. Damit heftet mir von nun an vermutlich die Spiesser-Plakette erster Ordnung für immer an und ich kassiere mal wieder ne Liste von unfollows – wtf.

Category: twitter | Tags: 9 comments »

9 Responses to “twitter kultiviert den polnischen Abgang”

  1. Daniel

    Muss dir zunächst leider twitter-Sucht bescheinigen ;-) Aber über jeden Unfollower per DM (oder Echtmail) benachrichtigt werden?! Das wär doch wieder Info-Overkill. Es sind eben weak ties und keine persönlichen Beziehungen und wenn ich im Hunderterbereich jedem hinterher trauern würde, das führt doch etwas zu weit. Lobo auf der Konferenz hat eine Verpflichtung, ist für einen bestimmten Zeitraum gebucht. Wenn er Unsinn redet, verlassen Leute aus dem Publikum auch wortlos den Raum. Oder sollen die sich vorher melden und rufen: “Bin jetzt weg!” ?!

    PS: Ich bleib dir treu ;-)

  2. Stephan

    Na ja die twitter-Sucht habe ich ja bereits eingestanden, bzw. als Erklärung zurückgewiesen (http://beimnollar.wordpress.com/2009/04/14/was-ist-eigentlich-twitter/).
    Das mit dem Lobo-Beispiel gefällt mir gut, denn es zeigt ja welche neue Qualität twitter hat und warum der Vergleich als Entkräftung nicht taugt: Lobo kann nicht mit jedem im Publikum eine Beziehung aufbauen, seine Gedanken lesen, mitverfolgen was er tut usw. – bei seinen followern kann er das aber. Und das ist vll genau die neue Qualität die ich meine – man hat plötzlich eine neue Art von Audience. Und da ist kommentarlos rausgehen eben keine gute Option mehr (von spammern usw. mal abgesehen).

  3. limone

    ach ich weiß nicht. ich unfollowe auch manchmal leute nur für ein oder zwei tage, wenn sie gerade die timeline fluten und ich die übersicht verliere. später abonniere ich sie wieder, und ich bin keinem böse, der das mit mir genauso macht. mit tweetdeck kann man zwar gruppen einrichten, die gefiltertes lesen ermöglichen, aber ich habe schon festgestellt, dass da nicht alle tweets erscheinen, und manchmal möchte ich eben nur eine person vorübergehend ausblenden. das darf man wirklich nicht persönlich nehmen. :-)

  4. @maxheadroom

    Aber ist nicht gerade diese Unverbindlichkeit das Attraktive an Twitter? Ich will niemandem erklären müssen, warum ich ihm folge oder nicht. Mich interessiert auch ehrlich gesagt bei den meisten Leuten gar nicht, ob sie mir folgen oder nicht. Bei den Leuten, bei denen es mich interessiert, würde ich dann auch selbst nachfragen, warum sie mir nicht mehr folgen.
    Twitter kann für mich ein Kommunikationstool sein aber auch schwarzes Loch. Die anhaltenden technischen Probleme von Twitter und 3rd-party-tools drumrum lassen auch nicht unbedingt Vertrauen in solche Follow- und Unfollow-Meldungen aufkommen.

    Auf der anderen Seite sehe ich aber in Twitter auch eine neue zu ungezwungene Kommunikationsform wachsen. Das ist so ähnlich wie das allseits beliebte Duzen heutzutage. Man ist sehr schnell per Du mit allen Kollegen und verliert dadurch schnell die notwendige professionelle Distanz zu den Leuten. Twitter fördert dies auch. Man twitter in Replies und DMs sehr ungezwungen mit Leuten an die man im echten Leben warscheinlich gar nicht rankommen würde. Das suggeriert eine persönliche Beziehung, wo oftmals gar keine ist. Trifft man sich dann mal in analog, gibts da bestimmt Enttäuschungen.

    Viele Twitterer überbewerten meiner Meinung nach den Dienst bzw. ihre zwitschernde Kommunikation.

  5. Textklick

    Hallo Holadiho,

    Wollte nur höflichkeitshalber sagen das ich dich entfolge. Da dafür werde ich gezielt deinen Kram aber selektiv als RSS Abo lesen. Grund? Zu viel Gezwitscher. Mein Scheiss Opera Widget zeigt nur die letzten 20 Tweets auf (es sei denn ich kann mehr anzeigen (RTFM?) in welchem Fall Vorschläge – woher auch immer – willkommen sind.

    Grüßle aus GB
    Chris

  6. Stephan

    Na das ist mal eine saubere und konsequente Reaktion, auch wenn ich jetzt natürlich in eine Depression verfalle. Aber ich habe noch etwas um Dich umstimmen zu können: Habe meine Entwickler schnell ein tool entwickeln lassen das diese Beschränkung nicht hat, was meinst Du? Siehe: http://bit.ly/BrqlW

  7. Textklick

    Habe meine Entwickler schnell ein tool entwickeln lassen…

    Die arbeiten aber wirklich schnell…

    Erstklassig! Jetzt wirste unentfolgt.

    Herzlichen Dank ;-)
    Chris

  8. Huck

    Abseits aller Unverbindlichkeiten und Lässigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, ist es tatsächlich auch nicht verkehrt ein Herz zu haben.

  9. toastmx

    Hast du nicht vor ein zwei Blogs gesagt das du genau diesen Nervenkitzel liebst ?

    Bin mir ziemlich sicher, hab mich desshalb nämlich in die Twitterfangemeinde eingereiht.

    Gruß @ToastMX


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