Die erste Generation wird schon von Algorithmen großgezogen

Ich muss häufiger meine Töchter durch die Gegend fahren, gerade jetzt in der Pandemie nochmal mehr als vorher. Zum Stall und zurück, zur Freundin, abends irgendwo abholen usw.

Natürlich ist das nervig und ich könnte mit meiner Zeit bessere Sachen anfangen. Aber für Eltern pubertierender Kinder kann das auch eine überraschend wertvolle Zeit sein, denn man verbringt ja eine meist recht entspannte, relativ intime Zeit mit dem eigenen Kind. Das sonst eigentlich kaum mit einem redet, und wenn dann eher in Stress-Situationen. Häufig reden wir aber auch bei Auto-Fahren nicht, beide Töchter (13 und 16) lieben es auch dann mit mir Musik zu hören, genaugenommen mich aus ihren Spotify-Konten über die Auto-Boxen zu beschallen.

Normalerweise läuft dann bei der 16-jährigen viel Deutsch-Rap, ab und zu mal etwas balladenhaftes (meistens er hat sie verlassen), hält sie aber meist nicht für einen ganzen Song aus. Sie singt viel mit und die Playlist wechselt häufig. Es ist interessant sich darauf ein bisschen einzulassen, denn es öffnet oft regelrecht ein Fenster in die Seele des eigenen Kindes. Gerade bei Deutsch-Rap funktioniert das gut, weil es halt sehr “textlastig” ist. Abgesehen von der Regel, dass ich nichts offensichtlich frauenfeindliches hören will (auch das ist übrigens eine spannende Regel, denn sie möchte natürlich vermeiden diesbzgl. ermahnt zu werden), ist erstmal alles erlaubt. Sie hört häufig Songs von Rapperinnen, die davon singen wie sie nun überraschend doch oben schwimmen, nachdem sie jahrelange Loser-Schulkarrieren hinter sich haben. Oder harte Love-Stories, meistens nach dem Muster “Babe & Gangster”. Aktuell z.B.:

(wie sehr das ins Innere geht kann man daran erkennen, dass sie an einem anderen Tag, als wir mal wieder über die Erfüllung von Schulpflichten stritten sagte, sie müsse überhaupt keinen Beruf erlernen, da gäbe es auch andere Möglichkeiten an Geld zu kommen…)

In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass sie ganz bei sich ist – es gibt einen starken Connect zwischen der Musik und ihrer Seele. Ist ja auch klar – gerade in diesem Alter ist Musik, also die Entdeckung des eigenen Musik-Geschmacks und das sich darin dann suhlen ein wesentlicher Teil der Selbst-Konstitution – nicht nur aus Ausdruck nach draussen, sondern auch als ein Formen nach Innen. Ich habe in dem Alter z.B. weinerliche Balladen von Chris de Burgh gehört – und wenn mein größerer Bruder mich da nicht Schritt für Schritt rausgeholt hätte, wäre ich heute vielleicht Versicherungsagent in Mannheim. Denn zu meiner Zeit formte sich der Musik-Geschmack durch Empfehlungen von Freunden, was man im Radio und in der Disko(!) hörte und bei Leuten wie bei meinem Bruder vll. auch noch was in der Spex oder dem Rolling Stone zu lesen stand. Oder in der Bravo. Wir hörten auch immer mal wieder heimlich die Hitparade (also ich zumindest), ich glaube daher kenne ich “kleine Taschenlampe brenn”.


Gestern fuhr ich sie mal wieder, da ragte aus dem Nerv-Rap-Wust plötzlich ein anderer Song empor, nämlich “Empire State of Mind” von Alicia Keys. Großartiger Song. Aber ich fragte mich, wie sie jetzt darauf kommt. Und fragte auch die Tochter (hatten noch ein paar km vor uns). War relativ schnell klar, denn natürlich kommt ein großer Teil ihrer Inspirationen aus den Empfehlungen von Spotify und in diesem Fall noch aus irgendeiner anderen Plattform (vermute “Insta”) – da hatte sie Videos über “coolen Lifestyle” geschaut – daher kam der Song. Und sicher sonst auch noch aus anderen Social-Media Quellen. Aber ebenso sicher nicht aus dem Radio, der Hitparade oder irgendwas auf Papier gedrucktem.

Jetzt könnte man sagen: so what, gibt halt neue Medien. Stimmt ja auch, aber es gibt schon einen wesentlichen Unterschied. Denn in den alten Medien waren die Musikempfehlungen menschengemacht. RedakteuerInnen, Musik-Freaks, Vorbands in Konzerten – alle Impulse die damals auf einen einprasselten hatten sich andere Menschen ausgedacht, mal intuitiv und manchmal auch aus Überlegung.

Meine Tochter aber wird groß mit einem Musikgeschmack, der ziemlich weitgehend von Algorithmen geprägt ist. Die natürlich keiner kennt und/oder versteht. Aber nach allem was man inzwischen so z.B. über den Youtube-Algorithmus weiß* oder auch den bei Facebook lässt erahnen, dass die einen durchaus ambitionierten Job tun und nicht etwa nur die populärsten Songs in der Kategorie Deutsch-Rap nach oben spülen. Viele der größeren Algorithmen-Buden beschäftigen sogar längst PsychologInnen, die versuchen die Computer mit aktuellem Wissen über die Funktionsweise unserer Seelen zu füttern. Übrigens mit relativ banalen Zielen, oft geht es schlicht darum, die Verweildauer in den Systemen zu erhöhen um mehr Werbung unterbringen zu können. Aber das funktioniert halt dann am besten, wenn man möglichst tief in der Seele andocken kann.

Auf der anderen Seite des Algorithmus geht es um viel – nämlich darum, mit welchem Selbst-Konzept, welchem Gefühl von sich selbst und mit welcher Leidenschaft ein Mensch groß wird, und sich innerlich konstituiert. Und das haben wir schon jetzt nahezu vollständig in die Hände von Algorithmen gegeben. Mir fröstelt ein wenig bei der Vorstellung, aber Chris de Burgh schwächt wiederum meine Position.

*in einer schönen Recherche (leider hinter paywall) wurde in diesem Artikel z.B. nachgezeichnet, wie sich einer der Erstürmer des Kapitols über eintauchen in Youtube über den Algorithhmus Schritt für Schritt radikalisiert hat…

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