Archive for January 2021


Die erste Generation wird schon von Algorithmen großgezogen

January 20th, 2021 — 1:20pm

Ich muss häufiger meine Töchter durch die Gegend fahren, gerade jetzt in der Pandemie nochmal mehr als vorher. Zum Stall und zurück, zur Freundin, abends irgendwo abholen usw.

Natürlich ist das nervig und ich könnte mit meiner Zeit bessere Sachen anfangen. Aber für Eltern pubertierender Kinder kann das auch eine überraschend wertvolle Zeit sein, denn man verbringt ja eine meist recht entspannte, relativ intime Zeit mit dem eigenen Kind. Das sonst eigentlich kaum mit einem redet, und wenn dann eher in Stress-Situationen. Häufig reden wir aber auch bei Auto-Fahren nicht, beide Töchter (13 und 16) lieben es auch dann mit mir Musik zu hören, genaugenommen mich aus ihren Spotify-Konten über die Auto-Boxen zu beschallen.

Normalerweise läuft dann bei der 16-jährigen viel Deutsch-Rap, ab und zu mal etwas balladenhaftes (meistens er hat sie verlassen), hält sie aber meist nicht für einen ganzen Song aus. Sie singt viel mit und die Playlist wechselt häufig. Es ist interessant sich darauf ein bisschen einzulassen, denn es öffnet oft regelrecht ein Fenster in die Seele des eigenen Kindes. Gerade bei Deutsch-Rap funktioniert das gut, weil es halt sehr “textlastig” ist. Abgesehen von der Regel, dass ich nichts offensichtlich frauenfeindliches hören will (auch das ist übrigens eine spannende Regel, denn sie möchte natürlich vermeiden diesbzgl. ermahnt zu werden), ist erstmal alles erlaubt. Sie hört häufig Songs von Rapperinnen, die davon singen wie sie nun überraschend doch oben schwimmen, nachdem sie jahrelange Loser-Schulkarrieren hinter sich haben. Oder harte Love-Stories, meistens nach dem Muster “Babe & Gangster”. Aktuell z.B.:

(wie sehr das ins Innere geht kann man daran erkennen, dass sie an einem anderen Tag, als wir mal wieder über die Erfüllung von Schulpflichten stritten sagte, sie müsse überhaupt keinen Beruf erlernen, da gäbe es auch andere Möglichkeiten an Geld zu kommen…)

In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass sie ganz bei sich ist – es gibt einen starken Connect zwischen der Musik und ihrer Seele. Ist ja auch klar – gerade in diesem Alter ist Musik, also die Entdeckung des eigenen Musik-Geschmacks und das sich darin dann suhlen ein wesentlicher Teil der Selbst-Konstitution – nicht nur aus Ausdruck nach draussen, sondern auch als ein Formen nach Innen. Ich habe in dem Alter z.B. weinerliche Balladen von Chris de Burgh gehört – und wenn mein größerer Bruder mich da nicht Schritt für Schritt rausgeholt hätte, wäre ich heute vielleicht Versicherungsagent in Mannheim. Denn zu meiner Zeit formte sich der Musik-Geschmack durch Empfehlungen von Freunden, was man im Radio und in der Disko(!) hörte und bei Leuten wie bei meinem Bruder vll. auch noch was in der Spex oder dem Rolling Stone zu lesen stand. Oder in der Bravo. Wir hörten auch immer mal wieder heimlich die Hitparade (also ich zumindest), ich glaube daher kenne ich “kleine Taschenlampe brenn”.


Gestern fuhr ich sie mal wieder, da ragte aus dem Nerv-Rap-Wust plötzlich ein anderer Song empor, nämlich “Empire State of Mind” von Alicia Keys. Großartiger Song. Aber ich fragte mich, wie sie jetzt darauf kommt. Und fragte auch die Tochter (hatten noch ein paar km vor uns). War relativ schnell klar, denn natürlich kommt ein großer Teil ihrer Inspirationen aus den Empfehlungen von Spotify und in diesem Fall noch aus irgendeiner anderen Plattform (vermute “Insta”) – da hatte sie Videos über “coolen Lifestyle” geschaut – daher kam der Song. Und sicher sonst auch noch aus anderen Social-Media Quellen. Aber ebenso sicher nicht aus dem Radio, der Hitparade oder irgendwas auf Papier gedrucktem.

Jetzt könnte man sagen: so what, gibt halt neue Medien. Stimmt ja auch, aber es gibt schon einen wesentlichen Unterschied. Denn in den alten Medien waren die Musikempfehlungen menschengemacht. RedakteuerInnen, Musik-Freaks, Vorbands in Konzerten – alle Impulse die damals auf einen einprasselten hatten sich andere Menschen ausgedacht, mal intuitiv und manchmal auch aus Überlegung.

Meine Tochter aber wird groß mit einem Musikgeschmack, der ziemlich weitgehend von Algorithmen geprägt ist. Die natürlich keiner kennt und/oder versteht. Aber nach allem was man inzwischen so z.B. über den Youtube-Algorithmus weiß* oder auch den bei Facebook lässt erahnen, dass die einen durchaus ambitionierten Job tun und nicht etwa nur die populärsten Songs in der Kategorie Deutsch-Rap nach oben spülen. Viele der größeren Algorithmen-Buden beschäftigen sogar längst PsychologInnen, die versuchen die Computer mit aktuellem Wissen über die Funktionsweise unserer Seelen zu füttern. Übrigens mit relativ banalen Zielen, oft geht es schlicht darum, die Verweildauer in den Systemen zu erhöhen um mehr Werbung unterbringen zu können. Aber das funktioniert halt dann am besten, wenn man möglichst tief in der Seele andocken kann.

Auf der anderen Seite des Algorithmus geht es um viel – nämlich darum, mit welchem Selbst-Konzept, welchem Gefühl von sich selbst und mit welcher Leidenschaft ein Mensch groß wird, und sich innerlich konstituiert. Und das haben wir schon jetzt nahezu vollständig in die Hände von Algorithmen gegeben. Mir fröstelt ein wenig bei der Vorstellung, aber Chris de Burgh schwächt wiederum meine Position.

*in einer schönen Recherche (leider hinter paywall) wurde in diesem Artikel z.B. nachgezeichnet, wie sich einer der Erstürmer des Kapitols über eintauchen in Youtube über den Algorithhmus Schritt für Schritt radikalisiert hat…

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Warum speisen wir unsere Kinder* mit solch einem IT-Müll ab?

January 11th, 2021 — 8:29am

*und LehrerInnen

Seit 1h läuft der zweite Lockdown mit Home-Schooling und es ist schon wieder zum Verzweifeln. Viele (vor allem die ohne eigene Schulkinder) fragen sich vielleicht: was hat sich verändert in den letzten 10 Monaten (ja, so lange geht das schon), wie haben die Schulen sich auf einen möglichen erneuten Lockdown vorbereitet?

Und man kann sagen: sie haben schon. Ein paar Sachen haben sich wirklich verbessert, viele nutzen Moodle, viele haben sich ein paar Gedanken zum Material gemacht und verwenden hier und dort sogar interaktive Übungen anstelle von PDF-Uploads, häufig gibt es Konzepte für den Einsatz von Video usw.

Aber gerade war ich kurz im Zimmer von K3 um ihr ein Toast vorbeizubringen nach der ersten Stunde. Und fragte kurz, wie es läuft – schliesslich haben wir über die Tage Ihren Arbeitsplatz verbessert, einen Mini-PC angeschafft, eine bessere Kamera usw. – wollte einfach mal hören ob alles funktioniert und so. Sagt sie “ja, das funktioniert schon bei mir, aber die meisten kamen eh nicht rein und wir sollen sowieso nur ohne Kamera dran teilnehmen, sonst geht es gar nicht.”. Es gibt sogar Anweisungen der Schulen (auch bei K2) dass bitte die Kamera grundsätzlich auszubleiben hat**. DAS MACHT MICH WAHNSINNIG. Denn ich bin ja selbst in der selben Situation, meine Firma, meine Kunden, meine Investoren – alle nutzen Video-Konferenz-Systeme um die Sache am Laufen zu halten. Wir schalten uns gleich in 15 Minuten zur ersten Konferenz mit Google-Meet zusammen (alle mit Kamera an natürlich), sicherlich gibt es heute auch noch Schalten mit WebEx und natürlich Zoom, bestimmt auch die eine oder andere mit MS-Teams oder vielleicht Skype.

Die Kinder nutzen nichts davon – die paar Schulen, die im Frühjahr mutig vorangeschritten sind und flächendeckend MS-Teams eingeführt haben wurden teilweise abgemahnt und mussten es wieder zurückfahren.

Bei den Schulen wird “Big-Blue Button” und “Jitsi” genutzt und vermutlich noch hier und da andere selbst-programmierte und aufgesetzte Lösungen.

Und jetzt verstehe man mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan von Open-Source und habe immer schon einen wesentlichen Teil meiner Arbeit daraus und dafür bestritten.

Aber ich frage Euch: warum nutzen wir in unseren beruflichen Kontexten nicht Jitsi und BBB? Warum schaffen wir es Video-Konferenzen zu machen mit Kamera an? Wir arbeiten ja zu ähnlichen Zeiten wie die SchülerInnen und in der gleichen physischen Realität…?

Es ist lohnend sich mal durchzulesen, was die Philosophie von Zoom ist, woran die vor allem gearbeitet haben in den letzten Jahren. Kann es aber auch vorwegnehmen: es ist die Produkt-Qualität, die Stabilität, Verlässlichkeit und Nutzbarkeit des Service. Das hat mit Caching zu tun, einer gut skalierenden Server-Infrastruktur und vielen kleinen Details. Getrieben vom Anspruch dass NutzerInnen einer Video-Lösung diese verlässlich mit Video nutzen wollen, auch wenn es gerade viele andere tun. Und das funktioniert ja auch. Auch in der Corona-Krise wurde da massiv nachgerüstet und die Infrastruktur verbessert und ich muss sagen – die genannten Lösungen sind eher stabiler geworden, ausserdem reicher an Features in den letzten Monaten. Und auch besser im Hinblick auf den Datenschutz – auch im Vergleich zu den meisten europäischen Lösungen, mehr Infos dazu siehe hier:

Also warum bitteschön erlauben wir es unseren Kindern, unserem Bildungs-System nicht wenigstens mit vernünftigen Ressourcen in den Distanz-Unterricht zu gehen? Warum müssen die mit nicht ladenden Seiten, Kamera-aus per default und abstürzenden Servern kämpfen jeden verdammten Morgen?

Ach ja, Datenschutz. Sie können ja keinesfalls auf einem System beschult werden, das auch nur ein Byte auf einem amerikanischen Server vorbeigeschickt hat.

Und auch hier: es kann sein, dass diese Datenschutz-Diskussion geführt werden muss. ABER WARUM MÜSSEN DAS DIE KINDER AUSBADEN? Warum nutzen wir nicht erstmal Jitsi und BBB für unsere super wichtigen Business-Meetings, bis es läuft?

Mich fuckt es total ab, wie wir mit unserem Bildungs-System umgehen und wie das ein paar Leute zur Spielwiese ihrer Kontroll-Phantasien machen. Vor allem aber, dass wir den Kids etwas zumuten, was wir in unserer Realität nach 10 Minuten aus dem Fenster werfen würden. Einfach, weil sich niemand wehrt.

**und nur zur Sicherheit: eine Video-Schalte, wo alle Kamera aus haben per default, ist eine Audio-Schalte. Gerade bei den Kindern glaube ich, dass der Präsenz-Effekt durch die Video-Verbindung essentiell wäre um einen brauchbaren Distanz-Unterricht hinzubekommen.

PS: nur um es klarzustellen: ich habe auch gar nichts dagegen, wenn ein perfekt aufgesetztes, gemonitortes und gut skalierendes BBB im Einsatz ist. Fände ich sogar selbst besser. Aber das ist nicht der Fall.

PPS: Live-Update. Gerade nochmal mit ihr gesprochen. Heute ging auch Moodle an sich meistens nicht. Lehrer hat versucht ein Audio-File hochzuladen für eine gemeinsame Analyse. Liess sich nicht abrufen, moodle down etc. – jetzt hat er per mail ein Transkript geschickt.

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