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Die erste Generation wird schon von Algorithmen großgezogen

January 20th, 2021 — 1:20pm

Ich muss häufiger meine Töchter durch die Gegend fahren, gerade jetzt in der Pandemie nochmal mehr als vorher. Zum Stall und zurück, zur Freundin, abends irgendwo abholen usw.

Natürlich ist das nervig und ich könnte mit meiner Zeit bessere Sachen anfangen. Aber für Eltern pubertierender Kinder kann das auch eine überraschend wertvolle Zeit sein, denn man verbringt ja eine meist recht entspannte, relativ intime Zeit mit dem eigenen Kind. Das sonst eigentlich kaum mit einem redet, und wenn dann eher in Stress-Situationen. Häufig reden wir aber auch bei Auto-Fahren nicht, beide Töchter (13 und 16) lieben es auch dann mit mir Musik zu hören, genaugenommen mich aus ihren Spotify-Konten über die Auto-Boxen zu beschallen.

Normalerweise läuft dann bei der 16-jährigen viel Deutsch-Rap, ab und zu mal etwas balladenhaftes (meistens er hat sie verlassen), hält sie aber meist nicht für einen ganzen Song aus. Sie singt viel mit und die Playlist wechselt häufig. Es ist interessant sich darauf ein bisschen einzulassen, denn es öffnet oft regelrecht ein Fenster in die Seele des eigenen Kindes. Gerade bei Deutsch-Rap funktioniert das gut, weil es halt sehr “textlastig” ist. Abgesehen von der Regel, dass ich nichts offensichtlich frauenfeindliches hören will (auch das ist übrigens eine spannende Regel, denn sie möchte natürlich vermeiden diesbzgl. ermahnt zu werden), ist erstmal alles erlaubt. Sie hört häufig Songs von Rapperinnen, die davon singen wie sie nun überraschend doch oben schwimmen, nachdem sie jahrelange Loser-Schulkarrieren hinter sich haben. Oder harte Love-Stories, meistens nach dem Muster “Babe & Gangster”. Aktuell z.B.:

(wie sehr das ins Innere geht kann man daran erkennen, dass sie an einem anderen Tag, als wir mal wieder über die Erfüllung von Schulpflichten stritten sagte, sie müsse überhaupt keinen Beruf erlernen, da gäbe es auch andere Möglichkeiten an Geld zu kommen…)

In diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass sie ganz bei sich ist – es gibt einen starken Connect zwischen der Musik und ihrer Seele. Ist ja auch klar – gerade in diesem Alter ist Musik, also die Entdeckung des eigenen Musik-Geschmacks und das sich darin dann suhlen ein wesentlicher Teil der Selbst-Konstitution – nicht nur aus Ausdruck nach draussen, sondern auch als ein Formen nach Innen. Ich habe in dem Alter z.B. weinerliche Balladen von Chris de Burgh gehört – und wenn mein größerer Bruder mich da nicht Schritt für Schritt rausgeholt hätte, wäre ich heute vielleicht Versicherungsagent in Mannheim. Denn zu meiner Zeit formte sich der Musik-Geschmack durch Empfehlungen von Freunden, was man im Radio und in der Disko(!) hörte und bei Leuten wie bei meinem Bruder vll. auch noch was in der Spex oder dem Rolling Stone zu lesen stand. Oder in der Bravo. Wir hörten auch immer mal wieder heimlich die Hitparade (also ich zumindest), ich glaube daher kenne ich “kleine Taschenlampe brenn”.


Gestern fuhr ich sie mal wieder, da ragte aus dem Nerv-Rap-Wust plötzlich ein anderer Song empor, nämlich “Empire State of Mind” von Alicia Keys. Großartiger Song. Aber ich fragte mich, wie sie jetzt darauf kommt. Und fragte auch die Tochter (hatten noch ein paar km vor uns). War relativ schnell klar, denn natürlich kommt ein großer Teil ihrer Inspirationen aus den Empfehlungen von Spotify und in diesem Fall noch aus irgendeiner anderen Plattform (vermute “Insta”) – da hatte sie Videos über “coolen Lifestyle” geschaut – daher kam der Song. Und sicher sonst auch noch aus anderen Social-Media Quellen. Aber ebenso sicher nicht aus dem Radio, der Hitparade oder irgendwas auf Papier gedrucktem.

Jetzt könnte man sagen: so what, gibt halt neue Medien. Stimmt ja auch, aber es gibt schon einen wesentlichen Unterschied. Denn in den alten Medien waren die Musikempfehlungen menschengemacht. RedakteuerInnen, Musik-Freaks, Vorbands in Konzerten – alle Impulse die damals auf einen einprasselten hatten sich andere Menschen ausgedacht, mal intuitiv und manchmal auch aus Überlegung.

Meine Tochter aber wird groß mit einem Musikgeschmack, der ziemlich weitgehend von Algorithmen geprägt ist. Die natürlich keiner kennt und/oder versteht. Aber nach allem was man inzwischen so z.B. über den Youtube-Algorithmus weiß* oder auch den bei Facebook lässt erahnen, dass die einen durchaus ambitionierten Job tun und nicht etwa nur die populärsten Songs in der Kategorie Deutsch-Rap nach oben spülen. Viele der größeren Algorithmen-Buden beschäftigen sogar längst PsychologInnen, die versuchen die Computer mit aktuellem Wissen über die Funktionsweise unserer Seelen zu füttern. Übrigens mit relativ banalen Zielen, oft geht es schlicht darum, die Verweildauer in den Systemen zu erhöhen um mehr Werbung unterbringen zu können. Aber das funktioniert halt dann am besten, wenn man möglichst tief in der Seele andocken kann.

Auf der anderen Seite des Algorithmus geht es um viel – nämlich darum, mit welchem Selbst-Konzept, welchem Gefühl von sich selbst und mit welcher Leidenschaft ein Mensch groß wird, und sich innerlich konstituiert. Und das haben wir schon jetzt nahezu vollständig in die Hände von Algorithmen gegeben. Mir fröstelt ein wenig bei der Vorstellung, aber Chris de Burgh schwächt wiederum meine Position.

*in einer schönen Recherche (leider hinter paywall) wurde in diesem Artikel z.B. nachgezeichnet, wie sich einer der Erstürmer des Kapitols über eintauchen in Youtube über den Algorithhmus Schritt für Schritt radikalisiert hat…

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Warum speisen wir unsere Kinder* mit solch einem IT-Müll ab?

January 11th, 2021 — 8:29am

*und LehrerInnen

Seit 1h läuft der zweite Lockdown mit Home-Schooling und es ist schon wieder zum Verzweifeln. Viele (vor allem die ohne eigene Schulkinder) fragen sich vielleicht: was hat sich verändert in den letzten 10 Monaten (ja, so lange geht das schon), wie haben die Schulen sich auf einen möglichen erneuten Lockdown vorbereitet?

Und man kann sagen: sie haben schon. Ein paar Sachen haben sich wirklich verbessert, viele nutzen Moodle, viele haben sich ein paar Gedanken zum Material gemacht und verwenden hier und dort sogar interaktive Übungen anstelle von PDF-Uploads, häufig gibt es Konzepte für den Einsatz von Video usw.

Aber gerade war ich kurz im Zimmer von K3 um ihr ein Toast vorbeizubringen nach der ersten Stunde. Und fragte kurz, wie es läuft – schliesslich haben wir über die Tage Ihren Arbeitsplatz verbessert, einen Mini-PC angeschafft, eine bessere Kamera usw. – wollte einfach mal hören ob alles funktioniert und so. Sagt sie “ja, das funktioniert schon bei mir, aber die meisten kamen eh nicht rein und wir sollen sowieso nur ohne Kamera dran teilnehmen, sonst geht es gar nicht.”. Es gibt sogar Anweisungen der Schulen (auch bei K2) dass bitte die Kamera grundsätzlich auszubleiben hat**. DAS MACHT MICH WAHNSINNIG. Denn ich bin ja selbst in der selben Situation, meine Firma, meine Kunden, meine Investoren – alle nutzen Video-Konferenz-Systeme um die Sache am Laufen zu halten. Wir schalten uns gleich in 15 Minuten zur ersten Konferenz mit Google-Meet zusammen (alle mit Kamera an natürlich), sicherlich gibt es heute auch noch Schalten mit WebEx und natürlich Zoom, bestimmt auch die eine oder andere mit MS-Teams oder vielleicht Skype.

Die Kinder nutzen nichts davon – die paar Schulen, die im Frühjahr mutig vorangeschritten sind und flächendeckend MS-Teams eingeführt haben wurden teilweise abgemahnt und mussten es wieder zurückfahren.

Bei den Schulen wird “Big-Blue Button” und “Jitsi” genutzt und vermutlich noch hier und da andere selbst-programmierte und aufgesetzte Lösungen.

Und jetzt verstehe man mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan von Open-Source und habe immer schon einen wesentlichen Teil meiner Arbeit daraus und dafür bestritten.

Aber ich frage Euch: warum nutzen wir in unseren beruflichen Kontexten nicht Jitsi und BBB? Warum schaffen wir es Video-Konferenzen zu machen mit Kamera an? Wir arbeiten ja zu ähnlichen Zeiten wie die SchülerInnen und in der gleichen physischen Realität…?

Es ist lohnend sich mal durchzulesen, was die Philosophie von Zoom ist, woran die vor allem gearbeitet haben in den letzten Jahren. Kann es aber auch vorwegnehmen: es ist die Produkt-Qualität, die Stabilität, Verlässlichkeit und Nutzbarkeit des Service. Das hat mit Caching zu tun, einer gut skalierenden Server-Infrastruktur und vielen kleinen Details. Getrieben vom Anspruch dass NutzerInnen einer Video-Lösung diese verlässlich mit Video nutzen wollen, auch wenn es gerade viele andere tun. Und das funktioniert ja auch. Auch in der Corona-Krise wurde da massiv nachgerüstet und die Infrastruktur verbessert und ich muss sagen – die genannten Lösungen sind eher stabiler geworden, ausserdem reicher an Features in den letzten Monaten. Und auch besser im Hinblick auf den Datenschutz – auch im Vergleich zu den meisten europäischen Lösungen, mehr Infos dazu siehe hier:

Also warum bitteschön erlauben wir es unseren Kindern, unserem Bildungs-System nicht wenigstens mit vernünftigen Ressourcen in den Distanz-Unterricht zu gehen? Warum müssen die mit nicht ladenden Seiten, Kamera-aus per default und abstürzenden Servern kämpfen jeden verdammten Morgen?

Ach ja, Datenschutz. Sie können ja keinesfalls auf einem System beschult werden, das auch nur ein Byte auf einem amerikanischen Server vorbeigeschickt hat.

Und auch hier: es kann sein, dass diese Datenschutz-Diskussion geführt werden muss. ABER WARUM MÜSSEN DAS DIE KINDER AUSBADEN? Warum nutzen wir nicht erstmal Jitsi und BBB für unsere super wichtigen Business-Meetings, bis es läuft?

Mich fuckt es total ab, wie wir mit unserem Bildungs-System umgehen und wie das ein paar Leute zur Spielwiese ihrer Kontroll-Phantasien machen. Vor allem aber, dass wir den Kids etwas zumuten, was wir in unserer Realität nach 10 Minuten aus dem Fenster werfen würden. Einfach, weil sich niemand wehrt.

**und nur zur Sicherheit: eine Video-Schalte, wo alle Kamera aus haben per default, ist eine Audio-Schalte. Gerade bei den Kindern glaube ich, dass der Präsenz-Effekt durch die Video-Verbindung essentiell wäre um einen brauchbaren Distanz-Unterricht hinzubekommen.

PS: nur um es klarzustellen: ich habe auch gar nichts dagegen, wenn ein perfekt aufgesetztes, gemonitortes und gut skalierendes BBB im Einsatz ist. Fände ich sogar selbst besser. Aber das ist nicht der Fall.

PPS: Live-Update. Gerade nochmal mit ihr gesprochen. Heute ging auch Moodle an sich meistens nicht. Lehrer hat versucht ein Audio-File hochzuladen für eine gemeinsame Analyse. Liess sich nicht abrufen, moodle down etc. – jetzt hat er per mail ein Transkript geschickt.

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Liebe Schulen, wir müssen reden.

March 23rd, 2020 — 8:24am

Kurzes Update: die Varianz ist doch recht hoch. Einige Schulen – genaugenommen muss man sagen, einige LehrerInnen – gehen wirklich mustergültig mit der Situation um. Nutzen Nextcloud für die Arbeitspapiere, bieten Video-Chat an und senden kurze Video-Messages zum Tagesbeginn. Das sollte nicht unerwähnt bleiben, allerdings zeigt es natürlich auch ein Problem: dass es in hohem Maße dem Zufall überlassen ist in unserem aktuellen System, ob ein Kind eine Top-Betreuung erhält oder halt nicht…


Ich verstehe, dass die aktuelle Herausforderung schnell und ungeplant kam. Und man könnte jetzt lange drüber diskutieren, ob nicht lange schon gemahnt wurde, dass insbs. in Deutschland die digitalen Lehr- und Lernmöglichkeiten zu wenig genutzt werden. Das führt aber jetzt zu nichts. Trotzdem durchläuft unser Schulsysem gerade so einen Härtetest, was das digitale Lernen anbelangt – und es sieht nicht gut aus. Ich habe selbst zwei Töchter in der Schule, eine 10. und eine 7. Klasse. Und ich kenne viele Eltern, die jetzt auch mit Ihren Kindern zuhause sitzen, und den Drucker im Hochleistungsmodus laufen haben.

Denn bisher sieht es grob so aus – Abweichungen nach oben und unten gibt es natürlich: SchülerInnen und Eltern werden mit Emails überhäuft, nicht selten hängen da für ein Fach eine zweistellige Zahl von auszudruckenden PDF-Seiten dran. Wochenpläne, Arbeitsblätter, Checklisten, Verweise auf Buchseiten. Manchmal wird eine Möglichkeit angeboten Ergebnisse irgendwo hochzuladen, manchmal soll man die als Attachment schicken, manchmal wird auch nur gesagt die Arbeitsergebnisse könnten “später” irgendwann geprüft werden. Übrigens ist schon diese Massnahme mit etlichen Hürden gepflastert, denn weder haben alle SchülerInnen einheitliche Email-Adressen, noch überhaupt die LehrerInnen. Datenschutz und so, ausserdem – sorry wenn ich das jetzt doch mal kurz sagen muss – digitale Verpeiltheit und Ablehnung. Aber egal, das wollte ich ja gar nicht thematisieren.

Gleichzeitig switcht das ganze analoge Arbeitsdeutschland auf Video-Conferencing, nutzt kollaborative Software-Lösungen und es werden sogar ganze Workshops und Kennenlern-Meetings ins Netz verlagert. Christoph Keesse, der konservative Ex-Manager des Axel-Springer Verlages veröffentlicht auf LinkedIn (einer digitalen Vernetzungs-Plattform für Arbeitstätige) seine Learnings zum Arbeiten im Netz. Fazit: funktioniert besser als gedacht, es wird konzentrierter, authentischer (u.a. weil man die Urlaubsbilder im Hintergrund an der Wand sieht oder schonmal ein Kind durchs Bild läuft) und ergebnisorientierter. Man kann die Arbeit fortsetzen, auch mit Kollegen und die Qualität leidet noch nichtmal unbedingt. Ich bin mir sicher, das Fazit von Keese hätte anders ausgesehen wenn er seinen Kollegen Emails mit Attachments geschickt hätte.

Also, das muss besser werden in der Schule. Und falls sie jetzt sagen/denken “ok, beim nächsten mal müssen wir da vll. wirklich besser vorbereitet reingehen und ab dem Herbst dann doch mal eine AG zu Arbeiten mit dem Internet anbieten”: nein. Es muss jetzt passieren.

Denn der Shutdown wird vermutlich noch Wochen dauern. Und ausserdem: es ist auch eine große Chance, auch für die Schulen! Die Möglichkeiten und Tools sind da, es gibt Leute die helfen wollen, und es ist auch einfach nötig. Im aktuellen Modus laufen wir Gefahr, dass für die Kinder ein halbes Schuljahr verloren geht, und übrigens die Eltern treibt es auch in den Wahnsinn so.

Was könnte man besser machen? Nun, ganz einfach und Schritt für Schritt. Hier erstmal ein paar Anregungen/Bausteine:

  • Video-Konferenz: es sollte ein System geben, über das sich z.b. eine Klasse per Video zusammenschalten kann. Z.b. morgens um 9(!) Uhr für ein kurzes “Standup”.
  • Gemeinsame Datei-Ablage: in einem Dokumenten-Portal werden pro Klasse und Fach alle Arbeitsaufgaben, Pläne etc. einheitlich abgelegt. Nur da.
  • Gemeinsam Dokumente bearbeiten: einfach mal die ganze Klasse ein Thema auf einem geteilten Dokument im Netz erstellen lassen (z.B. mit diesem Service https://yourpart.eu/ )
  • Video-Sprechstunde: jede/r FachlehrerIn bietet pro Tag eine Video-Sprechstunde an in die Kinder sich freiwillig einwählen können um Fragen zu stellen und Sachen erklärt zu bekommen
  • Fach-Chat: die FachlehrerInnen könnten je Klasse und Fach einen Chat-Channel aufsetzen, und dort Beratung zu anstehenden Aufgaben anbieten usw. (alternativ auch in Slack & Co s.u. möglich)
  • Digitale Referate: Kinder bereiten kleine Unterrichts-Einheiten vor (eher so 10 Minuten) und streamen diese per Video für Ihre MitschülerInnen
  • Digitale Materialien aus dem Netz nutzen: jede/r sitzt ja jetzt zuhause an einem vernetzten Computer mit allen Möglichkeiten. Also sollte das Füllhorn der anderen Quellen im Netz genutzt werden. Wer findet für dieses Mathe-Problem die tollste Erklärung auf Youtube? Vielleicht auch auf englisch, dann deckt man das gleich noch mit ab
  • Digitale Materialien erzeugen: SchülerInnen anleiten selbst Dinge zu erzeugen, ein Fach-Wiki, einen PodCast oder einfach eine informative Seite dazu, wie Desinfektion gegen Viren wirkt
  • Soziale Nähe digital herstellen: Home-Schooling ist psychosozial eine extreme Herausforderung, auch für die Kinder. Digitale Möglichkeiten können helfen soziale Nähe und Verbundenheit herzustellen, die sonst im Pausenhof entsteht. Machen Sie sich Gedanken über einen digitalen Pausenhof. Warum nicht alle in ein Schul-Minecraft einladen, die Schule nachbauen und jeder lässt seiner Kreativität nebenbei freien Lauf? Wie wäre es mit einem Klassen-Podcast? Der einst verhasste Klasssen-Chat wird jetzt plötzlich zum Backbone des Zusammehalts, gestalten sie es mit Ihren Schülerinnen. Bei uns in der Firma gibt es einen Video-Chat, der permanent offen ist und “Küche” heisst…
  • Digitale Experimente und Lehrinhalte: machen Sie die Herausforderung zur Chance. Klassen-Projekt zu Wikipedia, Ziel: gemeinsamen Artikel zu einem Thema kollaborativ erstellen, recherchieren, feinschleifen und dann die große Frage: schaffen wir es ihn in der “echten” Wikipedia zu veröffentlichen? Warum ist das eigentlich so schwierig und was kann man daraus lernen? Wie haben Lexika früher Qualität hergestellt und was kann man daraus wieder lernen? (–> Politik)
  • Oh oh, Datenschutz!! Ja, der Datenschutz wurde – insbs. seit DSGVO – oft herangeführt um Innovationen zu bremsen in der Vergangenheit. Nicht immer zu unrecht, es ist natürlich wichtig dass Daten der Kinder nicht in falsche Hände gelangen und dass LehrerInnen keine Urheberrechtsverletzungen angehängt bekommen. Aber dahinter kann man sich jetzt nicht mehr verstecken, denn das geht alles. Man kann datenschutzkonform moderne digitale Tools nutzen! Und noch ein kleiner Verlags-Rant: fast jede LehrerInnen-Mail ist mit einem Hinweis versehen, dass man das Material nicht teilen dürfe über die Klasse hinaus etc. – natürlich ein riesen Versäumnis, dass man nicht früher auf OER-Materialien gesetzt hat (bei Verlagen und Schulen). Was jetzt von Schulbuchverlagen gemacht werden könnte und was ich erwarte ist: ein Moratorium für Urheberrechts-Ansprüche bis Ende des Jahres. Alles kann geteilt werden ohne dass LehrerInnen und SchülerInnen Angst haben müssen Post vom Anwalt zu bekommen. Ich fände ein Statement der Verlage dazu mutig aber auch angemessen, tragt Euren Teil bei!
  • Alternatives Lernen: bitte nutzen sie die Zeit auch rauszufinden, welche Möglichkeiten des alternativen Lernens und Lehrens es geben könnte: welche Vorgaben zu Lernzeiten, überhaupt Uhrzeiten sind sinnvoll, welche nicht (laden sie die Kids doch ein, dazu was in einem Blogpost zu schreiben). Sagen Sie den Kids, dass sie 20% Ihrer Zeit für andere Projekte (mit Schulbezug) nutzen, und darüber berichten sollen. Setzen Sie mit den Kids Projekte auf, und lassen sie sie frei darin arbeiten, wie ein Forschungsteam. Denken sie über Möglichkeiten der Arbeitsvernetzung mit anderen Schulen in der ganzen Welt nach usw. Eine sehr schöne Inspirations-Quelle zum alternativen Lehren/Lernen in digitalen Zeiten sind die Beiträge von Dejan Mihajlovic aus Freiburg.

Die Liste könnte man noch beliebig weiterführen. Aber sie soll auch nicht erschlagen, denn es gibt eine wunderbare Sache, die man vom digitalen Arbeiten lernen kann: einfach loslegen! Kleine erste Versuche machen, verbessern, neu aufsetzen. Kleine Erweiterungen einfügen, ausprobieren, reflektieren. Manches wieder abschalten, anderes erweitern. Schämen Sie sich nicht, wenn ihnen das unsystematisch und komisch vorkommt. Das geht den Managern von Bayer genauso, wenn sie plötzlich mit digitalen Arbeitstechniken konfrontiert werden. Aber meistens springt schnell der Funke über und man versteht den Vorteil, ja den Spaß den diese Technik machen kann.

Vor allem aber sind solche Techniken hervorragend für Krisenzeiten geeignet. Und wir haben nicht nur eine Corona-Krise, sondern halt auch eine “digitale Schule Krise”. Wie toll wäre es, wenn wir das nicht als Versäumnis, sondern als Chance begreifen würden?

Und zuletzt noch – wie loslegen? Nicht einfach, ist klar. Aber es gibt auch eine riesige digitale Hilfs-Welle, die sich aktuell formiert. Die Leute von Chaos macht Schule z.B. arbeiten an Konzepten und Unterstützungsangeboten. Digitale Angebote wie z.B. Calliope mini haben sofort umgeschaltet auf Corona-Modus und bieten neue Inhalte an, die aktuell besonders gut funktionieren. In Ihrer Elternschaft befinden sich mit Sicherheit ein paar Menschen, die sich gut mit digitalen Möglichkeiten auskennen. Ich denke, es werden sich schon in Kürze (in wenigen Tagen) konkretere Angebote formieren. Ich werde diesen Artikel hier auch immer wieder aktualisieren, wenn etwas diesbezüglich zu berichten gibt. Bis dahin: machen Sie sich Gedanken und probieren Sie mit den Kindern vielleicht einfach mal eine Video-Session zu Beginn des Tages aus. Oder machen Sie mal eine Mathe-Stunde per Skype. Oder stellen Sie mal eine Unterrichtseinheit per Youtube zur Verfügung. Oder nehmen Sie mit einem Kollegen/einer Kollegin einen kleinen Podcast auf, vielleicht wird ja eine Reihe daraus. Nur mit Email-Attachments kommen wir jedenfalls nicht durch die Krise, so viel sollte klar sein.

We are all in this together.

Ach, eines noch: Es kursiert im Netz ein angeblicher Brief des französischen Bildungsministers an die SchülerInnen. Es ist schwer zu sagen, ob dieser authentisch ist, aber es ist auch egal. Denn in diesem Brief steckt eine wichtige Erkenntnis, die ich auch von unseren Kindern bestätigen kann: Nein, es sind keine Ferien – für niemanden fühlt sich der Corona-Shutdown so an. Die Grosseltern der Kinder leben seit Wochen in Abschottung, Papa macht keine Geschäftsreisen mehr, und auch die Kinder spüren diese seltsame Stimmung aus Angespanntheit und Ruhe in der Luft. Und natürlich Angst – dafür muss man nicht Militär-Laster zum Leichentransport im Fernsehen sehen – aber viele Kinder bekommen das vermutlich auch mit. Es ist also auch aus diesem Grund keine normale Schulsituation.
Ich sage das deshalb, weil eine Lehrerin heute schrieb “das Wichtigste was Ihr aktuell zu sein habt ist: SchülerInnen. Macht Eure Aufgaben, haltet die Zeiten ein”. Ich finde das emotional hilflos und unemphatisch. Alle sind in einer Krise, und für viele fühlt die sich existentiell und sehr bedrohlich an. Wenn die Todeszahlen in den nächsten Tagen ansteigen werden, wird sich dieser Eindruck noch verstärken. Noch ein Grund jetzt nicht mit aller Macht den Standard-Unterricht per PDF-Download und Motivations-Ansagen per mail durchzusetzen. Wir brauchen jetzt intelligentere, digitalere aber auch emotional der Situation angemessenere Angebote.

Und vielleicht noch als Vision: digitale Bildung kann so wundervoll sein. Meine Inspiration dazu kommt z.B. von den Erfahrungen mit den ersten Online-Kursen, die die Stanford-Universität vor ein paar Jahren ins Netz gestellt hat. Sie hat damit nicht nur völlig neue Wege beschritten Inhalte zu vermitteln – sondern auch den Zugang zu hochwertiger Bildung von Barrieren befreit, und Menschen weltweit zur Verfügung gestellt. Wer einmal ein Problem plötzlich verstanden hat, weil er eines dieser zahllosen Tuturials auf Youtube dazu gefunden hatte, versteht vielleicht was ich meine. Das Digitale kann die Bildung besser machen, zugänglicher, vielfältiger, intelligenter und besser auf die Erfordernisse der Kids zugeschnitten. Da sollten wir hin.

Ein paar erste Ideen/Links:

Podcasten:

Video-Conferencing:

  • https://meet.misax.net/ extrem niedrige Einstiegshürde, keine App o.ä. nötig, kostenlos
  • https://openvidu.io/
  • https://www.blizz.com/de/
  • Zoom erweist sich im Arbeits-Alltag gerade als sehr gutes Video-Tool. Zum ersten Ausprobieren sicher gut geeignet, man kann ja später auf eine Open-Source Variante wechseln. In der Basis-Version bis zu 100 TN und 40min pro Session kostenlos.
    (hat aber leider keine gute Datenschutz-Reputation aktuell)
  • https://meet.jit.si/ ist eine tolle nicht kommerzielle Variante, die schon von einigen Schulen genutzt wird

Document-Sharing:

  • https://www.ucloud4schools.com/ Ucloud von der kommunalen Regio-IT ist im Schulbetrieb erprobt und setzt auf Open-Source Komponenten
  • In vielen Firmen weltweit wird slack genutzt um in Teams zu kommunizieren. Man kann Channels anlegen zu einzelnen Themen (Fächern), Dokumente austauschen usw. – ist kostenlos nutzbar bis zu einer bestimmten Grenze und ein unabhängiges Unternehmen – mattermost ist eine open-source Variante zu slack, Microsoft Teams eine kommerzielle, die oft genutzt wird.
  • NextCloud ist eine Open-Source File-Sharing Plattform, die zB. von Chaos macht Schule eingesetzt wird. Muss allerdings lokal installiert werden.
  • Etherpads sind gemeinsam zu bearbeitende Online-Dokumente. Bei diesem Service hier kann man es ausprobieren. Dauerhaft sollte man das eher von seinem Dienstleister für die Schule installieren lassen.

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Me and my Ampler – warum ich jetzt E-Bike fahre

November 10th, 2019 — 12:56pm

Ich fahre seit neuestem ein E-Bike – das Stout von Ampler, einer kleinen Schmiede aus Estland. Ein wirklich tolles Fahrrad, auch ohne den Motor. Aber es hat ja einen, nur sieht und hört man den nicht (ist in der hinteren Nabe verbaut). Auch den Akku sieht man nicht (ist im Rahmen verbaut). Es hat auch keine fancy Bedien-Elemente oder Displays. Ein einziger Schalter am Rahmen deutet darauf hin, dass irgendwas anders ist an dem Rad, alles weitere wird in der App geschaltet. Und dann fährt es sich einfach so, wie es sich für Kinder reicher Eltern anfühlen muss durchs Leben zu gehen/schweben: immer leichter Rückenwind. Man kann drei Stufen einstellen – ja nachdem wie sehr man sich selbst betätigen möchte. In der stärksten Unterstützungs-Stufe hat es wirklich in manchen Situationen etwas von einem fliegenden Teppich. Ist natürlich für einen alternden unsportlichen Menschen wie mich toll, plötzlich an der Ampel wieder davonziehen zu können wie einst mit 16. Aber es gibt auch einen tieferen Grund, warum ich das angeschafft habe, und inzwischen erste Erfahrungen dazu, die will ich hier eigentlich kurz beschreiben – denn natürlich ist man sofort diversen Shaming-Attacken ausgesetzt, wenn Leute das sehen – grob aus zwei Richtungen, die eine ist die “Seniorenbike” Ecke, die andere die “das hat eine Batterie dafür müssen Kinder sterben” Ecke.

Für mich hat es einen ganz banalen Grund, warum ich das anschaffen wollte. Ich wollte häufiger mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren können. Mein Arbeitsweg ist ungefähr 7km lang und ich fahre auch so oft mit dem Fahrrad. Aber immer wieder auch nicht, und da gibt es ebenfalls zwei grössere Begründungs-Cluster. Der eine besteht darin, dass ich zu Arbeitsterminen nicht verschwitzt kommen will. Die Gefahr besteht vor allem dann, wenn man einen frühen Termin im Büro hat (oder in der Stadt) und durch das übliche Kinder-Gewimmel am morgen spät dran ist – und vielleicht auch noch schlecht geschlafen hat. Wenn ich dann zum Termin hetzen muss und es vielleicht noch bisschen warm ist oder falsch gekleidet komme ich verschwitzt an. Das hasse ich. Also fahre ich in solchen Fällen mit dem Auto. So eine Konstellation habe ich etwa einmal pro Woche. Der zweite Block sind Fälle, wo es einfach zu mühsam/nervig ist, mit dem Fahrrad zu fahren. Weil es kalt ist und/oder nieselt. Weil man müde ist und keinen Bock auf die Plackerei hat usw. usf.. Auch das kommt vermutlich mindestens auch einmal pro Woche vor (gilt übrigens auch für Rückweg, also wenn man einen schweren Arbeitstag vor sich hat etc.).

In beiden Fällen ist das E-Bike super und hat sich schon voll bewährt. Wenns morgens stressig ist, und ich unverschwitzt den Termin erreichen will, schalte ich einfach maximale Unterstützung ein und komme entspannt und pünktlich an. Übrigens – auch das ist oft ein Gegenargument – durchaus trotzdem mit guter körperlicher Betätigung, ich würde sogar sagen für Herz-Kreislauf Perspektive optimal. Wenn es regnet, ziehe ich das Regencape über, das bei normalem Fahrrad wegen erhöhtem Wind-Widerstand meistens ein grauenhaftes Fahr-Erlebnis beschert. Und segle damit durch den prasselnden Regen (ok, muss noch Waden/Fuss-Schoner anschaffen). Wenn es kalt und fies ist, ziehe ich mich einfach kuschelig warm an und fahre trotzdem.

Natürlich gibt es auch noch zig andere Situationen, wo das leichtere Fahren die Entscheidung begünstigt das Fahrrad zu nehmen. Also z.B. Fahren mit Kinder-Anhänger. Kurz ins Büro fahren um was zu holen. Fahren und dabei telefonieren ohne abgehetzt zu wirken, usw.

Und es sollte nicht verschwiegen werden, dass es einfach auch mehr Spass macht. Es fühlt sich einfach an, als führe man ein gnadenlos gut fahrendes Fahrrad und hätte eben immer leichten Rückenwind. Wer könnte das nicht wollen?

Geil am Ampler (bekomme nix für den Post, keine Sorge) ist auch noch, dass es gut aussieht und unfassbar leicht ist (17kg). Es ist defacto leichter als meine bisherige Gazelle, was nochmal Anwendungsfelder erschliesst.

Wichtig zu erwähnen ist überdies, dass es mich praktisch nichts gekostet hat auf dieses Fahrrad umzusteigen. Mein toller Arbeitgeber bietet nämlich Jobrad an, d.h. das Rad kann wie ein Dienstwagen über den Arbeitgeber geleased werden. Wird dann über Gehaltsumwandlung aus dem Brutto + Dienstwagenprivileg und Arbeitgeberzuschuss finanziert. Wir sind ja ein Startup, geht also sogar da (ok, war nicht ganz einfach). Aber jeder gute Arbeitgeber sollte das anbieten können.

Generell glaube ich, dass E-Bikes ein spannender Baustein für eine neue Mobilität sein können. Ein Fahrrad ist ein sehr freundliches Verkehrsmittel, man kann damit im Grünen fahren (Achtung, nicht mit Pedelecs die bis 45km/h gehen), es nimmt wenig Platz weg, hat keine Emissionen und der kleine 300Wh Akku kann problemlos mit Sonnenstrom aufgeladen werden. Übrigens macht die E-Motor Unterstützung natürlich auch Lastenfahrräder und Co zu viel brauchbareren Alternativen, das habe ich noch gar nicht oben berücksichtigt. Was ich an der Kombi auch gut finde ist, dass man sich trotzdem sportlich betätigt (anders als bei E-Scootern/Rollern etc.) und alle Wege nutzen kann, die Fahrrädern vorbehalten sind.

Ach und für alle Fahrrad-Laden Hasser (zähle mich auch dazu). Das Stout bestellt man im Internet und es wird per Spedition gebracht. Kommt so an:

Was ich genial fand dabei: das einzige, was ich tun musste um es in Betrieb zu nehmen ist Pedale einschrauben, Lenker ausrichten und festschrauben, Sattel einstellen. Alles andere war perfekt vormontiert und eingestellt. Hat weniger als 15 Minuten gedauert das in Betrieb zu nehmen.

Ein Vergleichs-/Testvideo hat mir besonders bei meiner Entscheidung geholfen, insbs. da das Ampler häufig mit dem VanMoof verglichen wird.

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Wie funktioniert die Digitalisierung? [Teil1]

October 19th, 2019 — 4:38pm

Ich beschäftige mich mit der Digitalisierung, seit ich angefangen habe zu arbeiten – oder kurz davor. Einfach weil das Internet für mich ehrlicherweise von Anfang an ein Suchtmedium war. Ich fühlte mich unglaublich von vernetzten Computern angezogen, und als das erste mal der Administrator des link-mailbox-systems mich per chat ansprach vor vielen Jahren, war das für mich wie eine Erscheinung, mega aufregend. Bin gleich zu meiner Frau gerannt und hab ihr davon erzählt, als sei gerade beim Rewe Madonna neben mir an der Kasse gestanden (mir ist klar, dass ich jetzt alle jüngeren LeserInnen verloren habe).

Und zunehmend stelle ich mir die Frage – woher kommt diese Anziehungskraft eigentlich? In den letzten Jahren kommt dann noch eine zweite Frage hinzu – denn inzwischen zeichnet sich ab, dass die Digitalisierung nicht nur uns Nerds einsaugen wird, sondern alles andere auch. Für mich ist das wirklich eine überraschende Entwicklung, die ich noch vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten hätte – dass man plötzlich mit einem Aussteller der Eisenwaren-Messe darüber spricht, wie er zur nächsten Ausgabe der Messe ein Cyber-connected Device rausbringen könnte. Inzwischen kann man klar sagen, dass die Digitalisierung alles erfassen wird, alle möglichen Industrie-Bereiche (auch solche wo man es nicht für möglich gehalten hätte), unser normales Leben (Freundschaften, Tod, Sex usw.) und zunehmend auch alle möglichen Aspekte unserer Gesellschaft, insbs. auch wie Politik funktioniert und gesteuert werden kann*.

Deshalb möchte ich mich in einer offenen Serie von Blogposts damit beschäftigen, wie die Digitalisierung funktioniert – welche Muster man erkennen kann und was daraus ggf. abgeleitet werden sollte. Ich werde dafür eine schlampige Sammlung von Quellen nutzen, meine berufliche Erfahrung, meine Erfahrung als “Netzbürger”, einen Vortrag von @mspro, den ich sehr inspirierend finde, Bücher von Jean Baudrillard und Felix Stalder sowie den gerade herausgekommenen Sammelband zur Digitalisierung der psychoanalytischen Zeitschrift “Psyche”. Ausserdem das aktuelle Buch von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger zum Daten-Kapitalismus. Die Liste der Bücher ist aus zwei Gründen etwas kurz. Einige andere habe ich dazu gelesen, vor allem englisch/amerikanische, die mir irrelevant erscheinen oder auf jeden Fall zu laberig. Aber vielleicht kommen die auch noch rein, daher ja offene Blogpost-Reihe. Baudrillard ist für mich ein Statthalter für frühere Theoretiker die ich sehr schätze, die schon vor dem Internet über bestimmte Dinge nachgedacht haben. Damit will ich der Frage nachgehen, ob es überhaupt tatsächlich das Internet ist, das diese Phänomene konstituiert und nicht schon eine frühere Entwicklung, die sich nur im Internet jetzt einen perfekten Ort gesucht hat (Baudrillard sprach in “der symbolische Tausch und der Tod” schon sehr früh von der Konversion der Wirklichkeit und unseres Lebens in die der Symbolik, das Simulakrum). Das mit der Psyche ist auch eine bestimmte Funktion. Bin ja selbst Psychologe und mit einer psychonanalytisch arbeitenden Psychotherapeutin verheiratet (die Zeitschrift ist ihr Abo). Diese Sog-Wirkung von der ich oben sprach muss auch so analysiert werden, denn sie ist in hohem Maße psychisch. Irgendwas in unserer Seele wird getriggert durch das Internet, etwas sehr tiefes. Die Psychoanalyse könnte eine spannende Quelle sein um evtl. zu Antworten zu kommen, was das sein könnte. Dabei geht es übrigens auch viel um Symbolisierung, Übergangs- und Ersatz-Objekte. Wir werden sehen.

Generell hat es nicht so sehr den akademischen Vollständigkeits-Anspruch. Eher eine Art Reflexion.

smartphone_bike

 

 

Was kreiert diesen unglaublichen Sog?

Nun aber zu dem Theoriemodell, an dem ich mich abarbeiten möchte, und das gewissermassen der Ausgangspunkt sein soll, um den diese Blog-Serie sich drehen wird. Ich habe mich mit der Frage wie die Digitalisierung funktioniert auch beruflich immer wieder auseinandergesetzt – weil ich als Speaker auf Events und Podien dazu eingeladen wurde (hier ein aktueller Vortrag dazu auf einer Business-Konferenz, ab 1:38), aber auch schlicht weil ich Unternehmer bin und einen besseren Job machen kann, wenn ich verstehe wie das Feld im innern funktioniert, in dem ich meine Firmen gründe. Ein zentrales Bild habe ich über die letzten Monate entwickelt, das momentan verwendet wird (hier auf meinem Firmen-Blog ein Post dazu mit stärkerem Business Fokus**), ist das hier:

 
digital sphere

In diesem Bild soll gezeigt werden, wie die Digitalisierung generell funktioniert. Und zwar in drei einfachen Schritten. Zunächst werden alltägliche Dinge mit dem Netz verbunden (1) indem z.B. Sensoren drangehängt werden oder indem anderweitig Status-Informationen eines Dings oder einer Maschine oder eines Menschen “hochgeladen” werden. Dabei entstehen erstmal Logfiles und Daten-Artefakte. Aber zunehmend – wenn diese Logfiles immer reicher und dichter werden (z.B. weil weitere Sensoren hinzugefügt werden oder weil KI Modelle Anwendung finden etc.) entstehen in der neu etablierten digitalen Sphäre sogenannte digital twins oder digital shadows (2a). Ein Konzept das in der Industrie schon seit längerem intensiv diskutiert und erprobt wird, aber eben auch ein generisches Phänomen. Es entsteht ein digitales Abbild, und in vielen Fällen ist dieses Abbild sogar informationsreicher oder relevanter als das eigentliche Objekt wenn ich davorstehe (z.B. weil der digital shadow eines Autos bestimmte Sensor-Daten aus dem Motor enthält oder Daten aus der Fertigung hinzuziehen kann, die ich selbst nicht kenne). An sich ist das noch nicht so spannend, könnte man noch für ein Nerd-Phänomen halten. Aber es passieren in der Folge noch zwei weitere Dinge, die das Spiel komplett umdrehen zugunsten der digitalen sphäre, und es plötzlich ultra-relevant machen. Zum einen entstehen plötzlich Pfeile “von oben nach unten” (2b), d.h. Änderungen in der digitalen Sphäre fangen an die realen Objekte zu beeinflussen. Der Stuxnet Angriff auf die iranischen Uran-Zentrifugen war z.B. so ein Pfeil – da wurden einfach Drehzahl-Parameter in der digitalen Steuerung (dem Scada-Controller) so verändert, dass die Maschinen “dachten”, sie könnten mit höherer Drehzahl arbeiten. Dann sind sie aber kaputt gegangen. Aber es passiert noch etwas das absolut faszinierend ist: zwischen den Objekten in der digitalen Sphäre bilden sich plötzlich Pfeile heraus, d.h. es werden Beziehungen etabliert die ausschliesslich in der digitalen Sphäre stattfinden (3). In der Industrie wird z.B. aktuell sehr heiß “machine as a service” diskutiert, also dass eine Maschine nicht mehr verkauft, sondern einfach nach gemessenen Nutzungsvorgängen automatisch abgerechnet wird. Das bedeutet, dass ein IoT Sensor an der Maschine misst, wie oft diese z.B. ein Bauteil gestanzt hat. Dieses Messdatum wird z.b. über 5G Uplink an eine Cloud übertragen. Dort landet das Datum in einem ERP-System und generiert eine Rechnung. Der gesamte Geschäftsprozess rund um die Maschine verschiebt sich dann in den digitalen Layer. Der alte Prozess im realen Layer hingegen wird zurückgefahren und irgendwann komplett eingestellt. Ist übrigens ein Phänomen, das sehr rationale Gründe hat – vor allem liegen diese in den drastisch niedrigeren Transaktions-Kosten in der digitalen Sphäre. Es ist einfach spottbillig eine Maschine messen zu lassen, wie oft ein Greifarm bewegt wird – es kostet praktisch nichts. Auch nicht das Datum zu übertragen, zu verrechnen und eine elektronische Rechnung auszustellen. In der realen Welt wäre so ein Prozess unbezahlbar gewesen. Das erklärt aber auch den Sog, zumindest einen Teil davon. Es ist ein simpler ökonomischer Mechanismus. Ich persönlich glaube allerdings, dass noch ein paar andere Prozesse eine Rolle spielen, die weniger ökonomisch sind und die sich mit dem ökonomischen Sog verbinden zu einem perfekten Wirbelsturm. Aber dazu später.

Was mir an dem Theoriemodell gefällt ist dass es sich wirklich gut eignet eine ganze Reihe von Phänomenen zu erklären und einzuordnen. Auch das soll später immer mal wieder geschehen, man kann z.B. die Pleite von Thomas Cook vs. das gute Abschneiden des Konkurrenten TUI sehr schön damit erklären. Aber ich werde auch immer mal wieder aus meinem Arbeitsalltag berichten, welche Phänomene gut dazu passen und wo man evtl. Anpassungen vornehmen müsste. Ausserdem werde ich mir hier und da auch erlauben ein paar launische Alltagsbeobachtungen darauf zu mappen, z.B. die mich rasend machende Gier der Menschen Konzerte mit Ihrem Smartphones aufzuzeichnen. Zunehmend auch in klassischen Konzerten. Und natürlich möchte ich mich – soviel es die Zeit eben zulässt – immer mal wieder mit aktuellen Theorie-Beiträgen dazu auseinandersetzen, und versuchen diese in Beziehung zu setzen. So z.B. den Vortrag von Michael Seeman zum digitalen Kapitalismus, den ich oben schon nannte. Denn die Phänomene, die er beschreibt passen hervorragend zum obigen Bild – durch die Verschiebung unseres Lebens in den digitalen Layer werden bestimmte Dinge provoziert, Eigentum wird unwichtiger (und eher durch Daten, Algorithmen und Verwertungs/Zugriffsrechte definiert), anstelle des “normalen” Marktes entsteht eine Art Hyper-Markt (dynamic pricing, Daten ersetzen Geld) und generell übernehmen die intangibles, also die symbolischen Ableitungen der realen Dinge (und deren Ableitungen) die Herrschaft was ganz neue Dynamiken erlaubt. Ich habe mich ja schon früher sogar hier im Blog dazu ausgelassen, wie es möglich sein kann wichtige Dinge aus dem realen Layer rüberzuretten in den digitalen, z.B. Solidarität. Auch das würde ich gerne weiterführen. Ach, und um noch ein bisschen trashig zu enden – ich möchte sogar Denkübungen aus dem Verband mit einbeziehen, für den ich im Präsidium bin. Da werden nämlich manchmal ungewöhnlich gute Papiere veröffentlicht – eines davon traut sich z.B. die bescheuerte Idee des “Daten-Eigentums” frontal anzugehen. Insgesamt ein spannendes Phänomen, denn ich halte das für einen Verteidigungskampf der realen gegen die digitale Sphäre. In dieser ist das Konzept des Daten-Eigentums eine absurde Idee, etwas das dem ganzen System zuwiederläuft. Worin ein spannender Gedanke liegen könnte…

*auch das sollte in einem zukünftigen Post mal behandelt werden. Ich könnte jetzt sagen, dass ich schon 2012 in einem Artikel in der FAZ gewissermassen Cambridge Analytica vorausgesehen habe usw. – aber eigentlich ist es eher so, dass ich das Aufkommen einer neuen Gänseblümchen-Art gemutmaßt hatte, und dann kam eine Dampfwalze. Egal, wie Digitalisierung Politik verändert, bzw. warum die repräsentative Demokratie gerade so sehr unter Druck ist (sie ist ja eine Art Vorläufer dieser Abbildungs-Idee) sollte man sich auch mal anschauen…

**ich möchte diese Verbindung von “privat” und “beruflich” hier ganz bewusst unscharf lassen (daher das logo nicht entfernt). Denn es ist tatsächlich diese Mischung aus Arbeitskontext und privatem Nachdenken, die ich für ein Feature in meiner Position halte. Es gibt bessere und belesenere TheoretikerInnen, ohne Zweifel. Ich versuche meine Stärke darin zu finden auf eine leicht schmutzige Weise berufliche Erkenntnisse aus vielen Kundengesprächen, Fachkonferenzen und Digitalisierungs-Projekten mit theoretischen Überlegungen und Sachen die ich auf der re:publica oder anderswo höre zu vermischen.

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Die innere Mechanik der Digitalisierung

June 10th, 2019 — 2:30pm

 

digital sphere

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Schulpflicht contra Versammlungsfreiheit

April 6th, 2019 — 10:46pm

Ein zentrales Argument gegen die Freitags-Demonstrationen der Fridays4Future Bewegung ist ja, dass die Schulpflicht das höhere Gut sei, und zu befolgen wäre. Zunehmend beginnen Schulen auch härter durchzugreifen, erste Strafen werden verhängt. Die NRW Schulministerin folgt der Linie ihres Parteivorsitzenden und wirkt auf Einhaltung der Schulpflicht und Bestrafungen der SchülerInnen hin. Wie beschämend. Was könnte man tolles draus machen als Schule, wenn Schülerinnen sich plötzlich für Politik und komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge interessieren…

greta

Aber nun gut, in diesem Post soll es um einen anderen Aspekt gehen, den Philipp Banse und Ulf Buermeyer in der Lage der Nation vor einigen Tagen aufgebracht haben – nämlich die Frage, ob die Schulgesetze der Länder tatsächlich höher stehen als das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Ulf Buermeyer (seines Zeichens Richter am Berliner Landgericht) wies in der Sendung darauf hin, dass z.B. in NRW das Schulgesetz zwar einen Katalog von Einschränkungen der Grundrechte aufzählt, die Versammlungsfreiheit dabei allerdings nicht auftauchen würde. Er hält es daher für sehr spannend abschliessend zu beurteilen, ob es wirklich durchsetzbar wäre, SchülerInnen für die Teilnahme an den freitäglichen Protesten zu belangen.

Ich will es mir daher hier schlicht kurz zur Aufgabe machen, für alle 16 Bundesländer aufzulisten, ob in deren Schulgesetz eine Einschränkung des Demonstrationsrechts vorgesehen ist, oder nicht:

  1. Baden-Württemberg: nein
  2. Bayern: nein
  3. NRW: nein
  4. Niedersachsen: nein
  5. Hamburg: nein
  6. Berlin: nein
  7. Brandenburg: nein
  8. Mecklenburg-Vorpommern: nein
  9. Sachsen: nein
  10. Thüringen: nein
  11. Saarland: nein
  12. Sachsen-Anhalt: nein
  13. Hessen: nein
  14. Bremen: nein
  15. Rheinland-Pfalz: nein
  16. Schleswig-Holstein: nein

Weitere juristische Anmerkungen oder Ergänzungen gerne in den Kommentaren oder als Email an mich, ich pflege es dann hier ein.

 

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Als die Hölle aufging

February 5th, 2019 — 10:13pm

1989 bin ich aus dem Allgäu nach Köln gezogen um meinen Zivildienst anzutreten – gerade 19 Jahre alt, in die grosse Stadt, raus aus dem verhasst konservativen bayrischen Tal. Köln war eine aufregende Stadt, Zivildienst war grossartig, man bekam eine Wohnung, einen Job und etwas Geld und ansonsten viel Freiheit. Ich wohnte direkt auf dem Gelände der Uniklinik in einem Schwesternwohnheim, möbliert. Und ich hatte meine Wunsch-Stelle zugesprochen bekommen – nämlich die Klinik-Seelsorge an der Uniklinik Köln. Riesiges imposantes Hochhaus, modernste Medizin aber auch alles abgefahren gross und Respekt einflössend. Ich war fest entschlossen nach dem Zivildienst (damals 24 Monate lang) mein Theologie-Studium anzutreten, und total gespannt auf die Zeit mit dem katholischen Seelsorger, von dem ich schon hier und da aufregende Sachen gelesen hatte. Und er war auch aufregend und total inspirierend – Pfarrer Helmut Zielinski, Leiter der Klinikseelsorge an der Uniklinik Köln. Praktisch vom ersten Tag an war ich als Hilfs-Seelsorger unterwegs, Neurologie und HNO, doch bald sollte noch anderes dazukommen. Es war eine harte Prüfung vom ersten Tag an. Durch die Gänge laufen, mit Schwerkranken reden und deren Leid irgendwie hilflos etwas erträglicher machen. Zwischendurch als Fake-Messdiener (weil evangelisch) dem Dominikaner-Pater assistieren oder auch mal einen Gottesdienst vor grauem Himmel mit lauter sterbenden Menschen, die im Liegen zu uns reingefahren wurden. Ich dachte es wäre schlimm und fühlte mich praktisch permanent innerlich überfordert, insbs. auch mit den schweren Diagnosen, dem Versagen der Ärzte wenn sie z.B. eine austherapierte Mutter zum Sterben nach Hause entliessen im festen Glauben sie sei geheilt – mit zwei kleinen Kindern.

Was ich nicht wusste war, dass Zielinski dabei war das erste Hospiz in Deutschland zu eröffnen, und dazu auch die erste Palliativ-Station in der Uniklinik, die nach englischem Vorbild völlig anders gestaltet war als die anderen Stationen im Bettenhaus – Aquarien, Polstermöbel, Musik. Und Menschen darin ohne Schmerzen, weil man sich endlich traute moderne palliative Schmerztherapie anzuwenden. In diesem Hospiz sollte ich viele Nächte als Zivi verbringen, noch mehr am Rande meiner Fähigkeiten. Aber es gab noch etwas, was ich nicht wusste – und das war, was auf Ebene 8 des Bettenhauses vor sich ging – der Station für Hauterkrankungen. 1989 war der erste Höhepunkt der Aids-Krise, und Köln war durch seine ausgeprägte Schwulenszene eine Hochburg des Sterbens. Zielinski der Seelsorger mittendrin – gegen seine Kirche, die damals verlauten liess, die Krankheit sei eine Strafe Gottes*. Ich kann mich noch genau erinnern wie es war, als er mich zum ersten mal mit auf die Station in Eben 8 nahm. Es war, als hätte jemand das Tor zur Hölle aufgemacht. War die Uniklinik sonst eher von älteren Menschen geprägt, lagen hier plötzlich fast ausnahmslos junge Männer in den 20ern in den Betten, wanden sich, schrien und sahen einfach furchtbar aus. Die Körper übersät von Karposi-Sarkomen, geplagt von Lungenentzündungen, Pilzerkrankungen und jeglicher Art von Scheiss-Infekten, weil das Immunsystem am Kollabieren war. Und niemand wusste, was das sollte. Ansteckungswege waren unklar, überhaupt was das für eine verdammte Krankheit war. Und die Jungs starben wie die Fliegen – es verging kaum ein Tag ohne Beerdigung, Tränen und Abschied. So viele von uns haben diese traumatische Zeit erlebt, bei mir stecken diese Monate und Jahre wie ein dunkles Kapitel irgendwo tief in der Seele. Dann wurde ich noch zu einem Sonder-Einsatz gerufen – einer von Zielinskis Patienten, mit dem er gerade ein Buch geschrieben hatte (“Ist Dir überhaupt klar, dass ich Aids habe?”) war in ein Landkrankenhaus in Darmstadt verlegt worden – warum ist mir bis heute nicht klar. Denn Horst war von zuhause ausgebrochen und hatte angefangen sein Schwulsein in Köln auszuleben. Hatte Freunde und wurde geliebt. Aber jetzt war er zurück in Darmstadt, in der Nähe seiner Familie – ich meine es hatte damit zu tun, dass die Uni-Klinik ihn nicht mehr halten wollte, und ein Ort zum Sterben gesucht wurde. Nur war das ein langsames Sterben mit Aids. Und das Pflegepersonal war voller Angst, wollte ihn eigentlich gar nicht anfassen. Also sollte ich die letzten 14 Tage bei ihm am Bett verbringen und dafür sorgen, dass es erträglich war. Dass er nachts nicht von der Angst zerfressen wurde. Und auch nicht das Pflegepersonal, dem ich vermeintlich infektiöse Pflegevorgänge heroisch abnahm. Obwohl ich auch totale Angst hatte. Ich musste dann abbrechen, weil ich nicht mehr konnte – aber Horst hatte darum gebeten, dass ich mit seinen Freunden aus der Aids-Hilfe seinen Sarg tragen würde. War einer der dunkelsten Momente, auf die ich so zurückblicken kann. Wie der innerlich vernichtete Vater mir in der Küche der Darmstädter Vorstadtwohnung ein Wasser anbietet, auf- und ab läuft und Du merkst, wie ihn das alles fast zerreisst, die Scham über das Schwulsein des eigenen Kindes, der Verlust, die Katastrophe. Das doppelte Sterben, weil ihm noch nichtmal im Angesicht des Todes gelang einen Frieden mit seinem Kind zu finden. Der gefakte Todes-Schein um zu vermeiden, dass er ausserhalb der Friedhofsmauern beigesetzt worden wäre. Das murmelnde Rosenkranz-Gebete der homophoben Drecks-Gemeinde. Und die heroischen, multipel angefeindeten Freunde aus der Aids-Hilfe, die zahlreich angereist kamen, Flagge zeigten und mit mir den Sarg trugen.

Danach hatte ich fertig.

Warum ich das erzähle – zum einen habe ich gerade zufällig nochmal Szenen aus Philadelphia mit meiner Frau geschaut. Ein Film, der wie kein anderer all das oben auf den Punkt bringt. Den Hass, die Angst, die Liebe und die Solidarität in der Schwulenszene, sowie bei Leuten, die ihnen in diesem unfassbaren Leid mit allem zur Seite standen. Wie auch Helmut Zielinski – der vor einem Jahr gestorben ist. Ich denke an die tausenden von Menschen, die dieses abartige Virus getötet hat. Möget Ihr in Frieden ruhen. Ich denke auch an die Medizin, die es geschafft hat diese epische Krankheit Schritt für Schritt einzudämmen und inzwischen fast zu besiegen. Ihr seid wirkliche Helden.

 

*der damalige Kardinal Meisner hatte gerade in einem TV-Interview gesagt, dass er Aids für eine Strafe Gottes halte. Ich kann bis heute noch spüren, wie sich diese Worte anfühlten auf Ebene 8. Aber wirklich heroisch war, wie Zielinski das wenige Wochen später konterte. Es war nämlich üblich, dass der Kardinal einmal pro Jahr in die Uniklinik kam, um Kranke zu salben. Ein gut organisierter Rundgang, bei dem vor allem gute Fotos entstehen sollten. In diesem Jahr stand der Rundgang wieder an, Presse war dabei und allerlei Leute rund um den Kardinal, die ihn begleiteten. Zielinski hatte die Leitung. Nur dass er diesmal kurzfristig und unabgesprochen den Lift auf Station 8 anhalten liess. Nach dem dritten Bett nahm der Kardinal Zielinski zur Seite und bat darum abzubrechen. Am nächsten Tag durfte ich ihn zum Dienstsitz des Kardinals in die Kölner Innenstadt fahren. Ich wartete in der Tiefgarage. Er kam zurück und war gefasst. Sofortige Versetzung nach Brasilien. Wo er bis zuletzt als Seelsorger gewirkt hat.

 

 

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Aus dem Fenster

January 4th, 2018 — 9:36pm

Als meine Mutter vor ein paar Jahren starb, war mein erster Impuls, als wir ins Haus zurück kamen diesen Fernseher durchs geschlossene Fenster nach draussen zu werfen. Bereue heute noch manchmal, dass ich es unterlassen habe. Der Grund war: sie hat gefühlt die letzten 10 Jahre ihres Lebens etwa 80% ihrer Wach-Zeit vor dem Ding verbracht. Natürlich hat das auch was damit zu tun, dass sie allein war und unsere Beziehung nicht die beste, klar. Und es hat vermutlich was damit zu tun, dass Du nach Krieg, mehrfach Flucht und Terror anderer Art bei drei Kindern allein in einem feindlichen bayrischen Dorf aufziehen, wohl irgendwann einfach nicht mehr kannst. Aber ich habe das Ding trotzdem gehasst – einfach weil es das Leben aus Ihrem Zimmer gesaugt hat. Als wir zuletzt da waren, meinte meine Frau, ich solle den Fernseher doch mitnehmen, bevor mein Vater ihn noch auf den Müll wirft. Haben wir gemacht. In Köln angekommen meinte sie beiläufig, ich könne ja vielleicht irgendeine Bastelei damit machen. Nun. Obwohl ich viel zu tun habe, und den verdammten D64 Ticker noch verfassen muss, habe ich den ganzen Abend damit verbracht, das Ding mit einem selbst-gelöteten Adapter-Kabel und dem Calliope mini anzusteuern. Was tatsächlich…mit erheblichen Einschränkungen…gelang. Bei genauem Hinsehen kann man rechts oben “Hello World” erkennen. Mehr ging nicht. Jetzt ist es gut, habe das Gefühl, das Teil irgendwie bewältigt zu haben. Denn das ist für mich auch Digitalisierung: Aneignung der Welt mit neuen Mitteln. Passive Rezeption durch aktive Gestaltung ersetzen. Lineares Drecks-TV auf den Müll verfrachten mit Binärcode, anstelle des Wurfes aus dem Fenster. Tschüss Mama nochmal.

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Auch wenn es keine Gründe braucht, gibt es deren viele #WithRefugees

June 20th, 2017 — 8:15am

Ich habe 130 Stunden Psychotherapie hinter mir – einen guten Teil ohne Zweifel deshalb, weil meine Mutter im Alter von 7 Jahren vor den Bomben aus Breslau fliehen musste, der Vater hatte sie schon verlassen, die eigene Mutter liess sie dann auch noch zurück. So kam sie erstmal alleine in Dankerode an, spätere DDR. Ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling. Von dort ist sie dann rund um den Mauerbau nochmal geflohen, auf einem untermotorisierten Moped in eine ungewisse Zukunft. Wurde wieder aufgenommen, diesmal in Stuttgart. Mein Vater wurde ausgebombt in der gleichen Stadt und musste als 10-jähriger Junge mehrfach aufs Land fliehen – dort wurden sie von Bauernhöfen aufgenommen und versorgt. In der gleichen Zeit sind übrigens tausende vor den Mordtruppen des Nazi-Regimes geflohen, interessanterweise genau umgekehrt zur heutigen Fluchtroute aus Syrien zu uns. Die Flüchtlingslager des zweiten Weltkrieges standen unter anderem in Syrien. Diese Flucht-Geschichten waren nicht nur oft dramatisch und viele sind dabei trotzdem umgekommen- sie haben auch fast immer tiefe Narben hinterlassen in den Seelen der Geflüchteten.

Man könnte also sagen – wir sollten alles dafür tun, Flüchtlingen in unserer Zeit eine Zuflucht zu bieten – schon allein aus Dankbarkeit und in Erinnerung an die eigenen Flucht-Geschichten. Will ich aber nicht sagen – denn Menschen in Not zu helfen ist in aller erster Linie eine humanitäre Pflicht, die ohne Vorbedingung und auch ohne Gedanken der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ausgeübt wird. Weil wir Menschen sind.

Deshalb bin ich auch immer noch Angela Merkel für Ihren historischen und von großer Haltung geprägten “Wir schaffen das” Move dankbar. Und den tausenden freiwilligen HelferInnen, die dafür gesorgt haben, dass es nicht bei diesem Spruch alleine blieb. Ich habe mein Land selten mit so menschlichem Antlitz gesehen, auch in der Welt wurde das wahrgenommen mit großem Respekt.

Und jetzt müssen wir dran arbeiten, dass daraus eine gute Geschichte wird am Ende. Mit guten Integrationsangeboten, Offenheit, Warmherzigkeit. Auch das können wir schaffen.

 

 

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